Antibiotikatherapie, Chirurgie oder beides?

Die 90-jährige Patientin wurde mit zunehmenden lumbalen Rückenschmerzen bei bekannter rheumatoider Arthritis und Spinalkanalstenose zur Optimierung der Schmerztherapie zugewiesen. Bei klinisch auffallender Druck­dolenz im Unterbauch sowie deutlich erhöhten Entzündungsparametern erfolgte eine weitere Diagnostik mittels Computer­tomografie des Abdomens, wobei sich eine gedeckt perforierte Appendizitis mit perityphlitischem Abszess zeigte. Die konservative Therapie mittels Abszess-Drainage und Antibiotika war erfolgreich.



Anamnese und Befunde

Die elektive Zuweisung der 90-jährigen Patientin erfolgte zur Optimierung der analgetischen Behandlung chronischer lumbaler Rückenschmerzen im Rahmen einer hochgradigen spinalen Stenose L4/5 und L1/2. Die Patientin berichtete, dass sie bereits seit mehreren Monaten an lumbalen Rückenschmerzen mit Ausstrahlung nach gluteal sowie in die dorsalen Oberschenkel leide. Die Schmerzen hätten in den letzten Tagen so stark zugenommen, dass eine selbstständige Mobilisation nicht mehr möglich sei. In der persönlichen Anamnese der Patientin bestand eine rheumatoide Arthritis mit langjähriger Therapie mit Leflunomid, das wegen Diarrhö sistiert und zwei Wochen vor Eintritt durch Methotrexat 10 mg subkutan ersetzt worden war. Als Nebendiagnosen hatte die Patientin eine arterielle Hypertonie, die mit Valsartan und Hydrochlorothiazid gut eingestellt war, sowie ein chronisches Vorhofflimmern/
-flattern. Die orale Antikoagulation mit Rivaroxaban hatte die Patientin wegen Epistaxis selbstständig abgesetzt.
Bei Krankenhauseintritt präsentierte sich die Patientin grenzwertig hypoton (Blutdruck 107/68 mmHg), knapp normokard (Herzfrequenz 97/min) und afebril (Temperatur 37,0 °C) in leicht reduziertem Allgemein- und adipösem Ernährungszustand. In der klinischen Untersuchung fiel eine deutliche Druckdolenz im Unterbauch sowie eine Klopfdolenz paravertebral beidseits im Bereich der unteren Lumbalwirbelsäule auf. Laboranalytisch imponierten ein deutlich erhöhtes C-reaktives Protein von 214 mg/l (< 5 mg/l) sowie eine Panzytopenie (Tabelle 1).

Differenzialdiagosen

Unsere hochbetagte Patientin präsentierte sich mit zunehmenden lumbalen Schmerzen, einer abdominalen Druckdolenz sowie mit einem laboranalytisch nachgewiesenen Entzündungszustand und einer Panzytopenie. Wegen der wenig spezifischen Präsentation ergeben sich verschiedenste Differenzialdiagnosen. Aufgrund der langjährigen Vorgeschichte besteht neben einer Exazerbation der Schmerzen im Rahmen der bekannten Spinalkanalstenose die Möglichkeit einer Spondylarthritis. Dagegen spricht das hohe Alter der Patientin sowie eine fehlende Besserung der Symptomatik durch Bewegung im Verlauf des Tages. Eine weitere Differenzialdiagnose aus dem rheumatologischen Formenkreis ist eine Kristallarthropathie, am ehesten eine Calciumpyrophosphat-Ablagerungserkrankung. Dafür passend sind das hohe Alter und das Geschlecht der Patientin. Üblicherweise sind hier eher die peripheren Gelenke betroffen, und bei einer akuten Arthritis kommt es zu einer Schwellung und Rötung des betroffenen Gelenks.
In Zusammenhang mit der in der klinischen Untersuchung festgestellten Druckdolenz im Unterbauch kamen differenzialdiagnostisch auch abdominale Infektionen in Frage. Kolitiden unterschiedlicher Ätiologie verursachen in der Regel neben abdominalen Schmerzen auch Stuhlveränderungen wie Diarrhö, Schleimbildung oder Blutbeimengung und führen selten oder nur in Schüben zu so deutlich erhöhten Entzündungsparametern. Sowohl eine Cholezystitis, Divertikulitis als auch eine Appendizitis kommen aufgrund der Symptomatik und des deutlich erhöhten C-reaktiven Proteins als infektiologische Differenzialdiagnosen in Frage.
Die Panzytopenie wurde am ehesten im Rahmen der Therapie mit Methotrexat der bekannten rheumatoiden Arthritis mit Aggravation im Rahmen des akuten Entzündungszustands gewertet. Differenzialdiagnostisch muss an eine neo- oder dysplastische hämatologische Erkrankung gedacht werden.

Weitere Abklärungen und Verlauf

Zur Suche eines möglichen Infektfokus erfolgte aufgrund der Druckdolenz im Unterabuch eine Computertomografie des Abdomens. Hierbei zeigte sich der Verdacht auf eine gedeckt perforierte Appendizitis mit perityphlitischer Abszedierung und beginnender Peritonitis (Abb. 1). Aufgrund des hohen Patientenalters wurde in Rücksprache mit den Kolleginnen und Kollegen der Viszeralchirurgie auf eine notfallmässige Appendektomie verzichtet. Nach Abnahme von Blutkulturen wurde mit einer intravenösen antibiotischen Therapie mit Amoxicillin/Clavulansäure begonnen. Am Folgetag erfolgte durch die interventionellen Radiologen eine perkutane Drainageeinlage in den perityphlitischen Abszess. Darunter kam es zu einer raschen Besserung der Schmerzsymptomatik und die Entzündungs­parameter waren rückläufig. In den Kulturen der Abszess-Drainage wurden pansensible Escherichia coli nachgewiesen. Unter einer parenteralen antibiotischen Therapie mit Amoxicillin/Clavulansäure kam es zu einer Normalisierung der Leuko- und Thrombozyten. Bei weiter persistierender makrozytärer Anämie konnte in der weiteren Diagnostik ein schwerer Vitamin-B12-Mangel von 71 pmol/l (141–189 pmol/l) nachgewiesen werden. Es wurde mit einer parenteralen Substitution begonnen.

Diagnose

Bei unserer hochbetagten Patientin wurde computertomografisch eine komplizierte Appendizitis mit perityphlitischem Abszess diagnostiziert. Die eingeleitete konser­vative Therapie mit Abszess-Drainage und antibiotischer Therapie mit Amoxicillin/Clavulansäure war erfolgreich.

Kommentar

Die genaue Pathophysiologie der Appendizitis ist nicht vollständig geklärt. Am ehesten entwickelt sich eine Appendizitis durch eine Obstruktion des Lumens mit Sekretansammlung, Steigerung des intraluminalen Drucks und Bakterienvermehrung. Die venöse und die lymphatische Drainage werden gestört, was zu einer Ischämie führt. Die Folgen sind Gangrän, Perforation mit Freisetzung von Darmbakterien (insbesondere Enterobacteriaceae und Anaerobier) bis hin zu perityphlitischem Abszess, Peritonitis und Sepsis. Je nach Ausprägungsgrad wird die Appendizitis als unkompliziert oder kompliziert bezeichnet: Bei der unkomplizierten Form beschränkt sich Inflammation auf den Appendix. Die komplizierte Form ist jede ­Appendizitis mit periappendikulärer Phlegmone, freier ­Flüssigkeit oder Abszess, mit oder ohne Perforation. Die sichere Einteilung im klinischen Alltag ist oft erst intraoperativ oder sogar nur durch den histologischen Befund möglich. Trotz hoher Zuverlässigkeit der Computertomografie in der Diagnosestellung einer Appendizitis ist die Differenzierung der unkomplizierten und komplizierten Appendizitis nicht immer möglich.
Die Appendizitis ist der weltweit häufigste abdominelle chirurgische Notfall. Jährlich erkrankt eine von 1000 Personen an einer Appendizitis. Das Lebenszeitrisiko beträgt bei Männern 8,6 %, bei Frauen 6,7 %. Am häufigsten erkranken Jugendliche im Alter von 10–19 Jahren. Bei älteren Personen > 65 Jahre, wie im Fall unserer Patientin, ist eine Appendizitis oft mit milderen und unspezifischen Symptomen, einem protrahierten Verlauf und einer höheren Perforationsrate verbunden [1]. Die Herausforderung für die Klinikerin und den Klinker besteht bei älteren Pa­tientinnen und Patienten darin, aus einem atypischen klinischen Beschwerdebild und orientierenden Laboruntersuchungen (CRP, Blutbild) an eine Appendizitis zu denken und die entsprechende bildgebende Diagnostik zu veranlassen.
Historisch besteht die Meinung, dass die Appendizitis eine irreversible Krankheit ist, die unbehandelt unweigerlich zur Perforation und Peritonitis führt. Aus diesem Grund wird eine Appendizitis praktisch in allen Fällen operativ behandelt. In der internationalen Beobachtungsstudie POSAW von 2018 wurden von 4282 Personen mit Appendizitis 95,7 % operativ (51,7 % laparoskopisch und 42,2 % offen) und nur 4,3 % konservativ behandelt [2].
Die Appendektomie als einzige Behandlungsoption der unkomplizierten Appendizitis wird jedoch immer häufiger hinterfragt. Als alternative Therapieoption kommt die konservative Therapie mittels Antibiotika in Frage. In einer Metaanalyse von fünf randomisierten Studien mit insgesamt 1351 Personen betrug die Effektivität der Therapie nach einem Jahr 98,3 % bei Appendektomie im Vergleich zu 75,9 % bei der konservativen Therapie (p < 0,0001). Im Antibiotika-Arm erlitten 22,5 % der Betroffenen innerhalb des ersten Jahrs ein Rezidiv und mussten doch noch operiert werden [3]. In der CODA-Studie aus dem Jahr 2020 mit 1552 Teilnehmenden (je 50 % in der Appendektomie- und in der Antibiotikagruppe) zeigte sich, dass der Gesundheitszustand der Teilnehmenden nach 30 Tagen gleich gut war, unabhängig von der Therapiemethode. 29 % der Teilnehmenden mit primärer Antibiotika-Behandlung wurden jedoch bis zum Tag 90 doch noch appendektomiert; wenn ein Appendikolith nachgewiesen wurde, waren es sogar
41 %. [4].
Zusammenfassend kann eine unkomplizierte Appendizitis beim Erwachsenen primär antibiotisch behandelt werden. Die Effektivität der chirurgischen Therapie bleibt jedoch höher. Der Eingriff ist komplikationsarm, und bei rund 1 % der Appendektomien werden unerwartete Neoplasien diagnostiziert. Bei einer komplizierten akuten ­Appendizitis mit freier Perforation sollte eine Appendektomie unverzüglich durchgeführt werden. Bei der Appendizitis mit einer lokalen Komplikation (Abszess oder Phlegmone) kann bei stabilen Patientinnen und Patienten, wie in unserem Fall, eine initial konservative Therapie mit Antibiotika und allenfalls Drainage durchgeführt ­werden, gefolgt bei Bedarf von einer Appendektomie nach 6–8 Wochen. Bei diesem Vorgehen kommt es zu weniger Komplikationen als bei einer Notfalloperation [5].
Antibiotika sind wichtige Bestandteile der Appendizitis, Therapie und sollten gegen Gram-negative Bakterien und Anaerobier wirksam sein (Tabelle 2). Die notwendige Dauer der Antibiotikatherapie im Rahmen der nicht-­operativen Therapie orientiert sich hauptsächlich am ­klinischen Verlauf und der Dynamik der Entzündungsparameter; in der Regel wird vorerst eine parenterale Antibiotikatherapie über 1–3 Tage empfohlen, die für weitere 5–7 Tage mit oralen Antibiotika fortgeführt wird [2]. Perioperativ sollten Antibiotika immer, unabhängig davon, ob eine unkom­plizierte oder komplizierte Appendizitis vorliegt, angewendet werden. Dadurch werden Wundinfek­tionen und ­Abszesse reduziert. Die postoperative Fortsetzung der Antibiotikatherapie über 5–7 Tage ist nur bei der komplizierten Appendizitis, vor allem beim Vorliegen eines Abszesses indiziert.

Im Artikel verwendete Abkürzungen
CRP C-reaktives Protein
L1/2 Segment 1 und 2 der Lendenwirbelsäule
L4/5 Segment 4 und 5 der Lendenwirbelsäule

PD Dr. med. Alexia Cusini

Leitende Ärztin für Infektiologie
Kantonsspital Graubünden
Loëstrasse 170
7000 Chur

alexia.cusini@ksgr.ch

Historie
Manuskript akzeptiert: 20.02.2023

Interessenskonflikte
Es bestehen keine Interessenskonflikte.

ORCID
Meret Joanna Zehnder
https://orcid.org/0000-0003-1299-8122
Alexia Cusini
https://orcid.org/0000-0001-5086-0293

  • Je nach Ausprägungsgrad wird eine unkomplizierte Appendizitis (Inflammation des Organs) von einer komplizierten Appendizitis (Abszess, Phlegmone, freie Flüssigkeit, mit/ohne Perforation) unterschieden.
  • Bei älteren Personen präsentiert sich eine Appendizitis oft mit milderen und unspezifischen Symptomen, einem protrahierten Verlauf und einer höheren Perforationsrate.
  • Die Appendektomie bleibt auch bei der unkomplizierten Appendizitis die Standardbehandlung, weil es ein effektiver und komplikationsarmer Eingriff ist.
  • Bei stabilen Patientinnen und Patienten mit komplizierter Appendizitis und einer lokalen Komplikation kann eine initial konservative Therapie mit Antibiotika und allenfalls Drainage durchgeführt werden mit nachfolgender Appendektomie.

PRAXIS

  • Vol. 112
  • Ausgabe 11
  • September 2023