Das akute Koronarsyndrom: Nach der Revaskularisation ist vor der (Sekundär-) Prävention

  • Das akute Koronarsyndrom: Nach der Revaskularisation ist vor der (Sekundär-) Prävention


Die Behandlung des akuten Koronarsyndroms (ACS) ist eine medizinische Erfolgsgeschichte, deren Behandlungsstrategien während der letzten Dekaden kontinuierlich gereift sind und die zugrunde legende Evidenz hoch ist. Gegenüber dem «Thrombolyse-Zeitalter» konnte die Mortalität beim akuten ST-Hebungsinfarkt (STEMI) dank der primären perkutanen Koronarintervention (PCI, Evidenzklasse I, Level A), welche die schnelle mechanische Wiederherstellung des Blutflusses im verschlossenen Koronargefäss in der Mehrzahl der Fälle erlaubt, in der Schweiz eindrücklich von 10-18% auf heute durchschnittlich 4% Prozent gesenkt werden, wobei der Nutzen bei beiden Geschlechtern und auch bei betagten Patienten zum Tragen kommt (1, 2). Nicht minder wichtig hierfür war die Organisation einer medizinischen Infrastruktur (STEMI-Hotline, schweizweit flächendeckendes Angebot PCI-fähiger Spitäler mit 24 Stunden/7 Tage Bereitschaft, direkte Einlieferung ins Herzkatheterlabor unter Umgehung des Notfalls, IB), die die rasche Diagnose und zielgerichtete Notfallverlegung der (mit Ausnahme weniger aus entlegenen Regionen stammender) Patientinnen und Patienten innert 60 Minuten ermöglicht. In Analogie zum STEMI hat sich auch beim Nicht-ST-Hebungs-ACS (NSTE-ACS) die frühe Revaskularisation bewährt (IA). Die Bestimmung des hoch-sensitiven Troponins unter Anwendung von 0h/1h Algorithmen ermöglicht beim NSTE-ACS eine rasche Triage hinsichtlich der weiteren Diagnostik und Behandlung (IB). Durch Fortschritte in der Stenttechnologie sowie bei der medikamentösen antithrombotischen Therapie (insbesondere potente P2Y12-Inhibitoren, IA) konnte zudem das Risiko von Stentthrombosen auf etwa 1% innerhalb des 1. Jahres gesenkt werden (3).
In Anbetracht der grossen Fortschritte während der Frühphase der Behandlung des ACS legte sich der Fokus der Forschung in den letzten Jahren vermehrt auf die Sekundärprävention, die Verhinderung künftiger ischämischer, aber auch hämorrhagischer Ereignisse. Und diese Massnahmen beginnen bereits bei der Behandlung der Culprit-Läsion. So erlaubt der Einsatz von intrakoronarer Bildgebung (optische Kohärenztomographie oder intravaskulärer Ultraschall) während der PCI die Häufigkeit künftiger Ereignisse im behandelten Gefäss («Target Vessel Failure») zu reduzieren (4) und wird deshalb in den aktuellen europäischen (European Society of Cardiology, ESC) Leitlinien bei ACS-Patienten mit einer IIaA Indikation empfohlen (5). Darüber hinaus ermöglicht die intrakoronare Bildgebung die Identifizierung vulnerabler (häufig nicht-stenosierender) Plaques, welche unter hoch-intensiver lipid-senkender Therapie mit PCSK9-Inhibitoren in Ergänzung zur Statintherapie eine Plaque-Regression aufweisen können (6).
Es besteht robuste Evidenz, dass eine komplette Revaskularisation bei ACS-Patienten, d.h. Behandlung zusätzlicher signifikanter Stenosen in Nicht-Infarkt-Gefässen sowohl durch angiographischen als auch funktionellen Nachweis und unabhängig vom Alter prognostisch günstig ist (7). Die europäischen Leitlinien empfehlen, dies innert 45 Tage nach dem initialen ACS-Ereignis durchzuführen (IA) (5). Zwei in diesem Sommer publizierte grosse randomisierte Studien (MULTISTARS AMI und BIOVASC) legen nahe, dass bei hämodynamisch stabilen Patienten eine komplette Revaskularisation noch während der Index-Prozedur erfolgen kann, ohne Nachteile hinsichtlich des kombinierten Endpunktes von Tod, Myokardinfarkt, Hirninfarkt, ungeplanter Revaskularisation (und Hospitalisation wegen Herzinsuffizienz bei MULTISTARS AMI) nach einem Jahr im Vergleich zu einer staged Intervention innert 45 Tagen (8, 9).
Die dritte wesentliche Neuerung in den aktuellen ESC-Leitlinien betrifft die Dauer und Art der antithrombotischen Therapie nach dem ACS. Während bislang bei mittels PCI behandelten ACS-Patientinnen und Patienten eine relativ starre Empfehlung einer einjährigen (oder bei hohem Blutungsrisiko mindestens 6-monatigen) dualen Antiaggregationstherapie (DAPT) bestand (IA), haben die Resultate mehrerer Studien, welche verschiedene DAPT-Strategien untersucht haben, dazu geführt, dass nun auch beim ACS verkürzte DAPT-Strategien von 1-3 Monate (IIbB bzw. IIaA) zur Reduktion des Blutungsrisikos in Betracht gezogen werden – natürlich unter Berücksichtigung des individuellen ischämischen Risikos (5). Zunehmend nimmt auch die Erkenntnis Einzug, dass nach der initialen DAPT-Phase eine Monotherapie mit einem P2Y12-Inhibitor anstelle des traditionellen Aspirins eine Alternative darstellt (IIbA). Langfristig ist die Adhärenz zur Leitlinien-empfohlenen Therapie ausschlaggebend. Neben der antithrombotischen Therapie ist insbesondere die hoch-intensive lipidsenkende Therapie mit Statinen (IA) und ggf. PCSK-9-Inhibitoren (IA) zu nennen, deren Beginn bereits unmittelbar nach Infarkt sicher ist (10, 11).

In der aktuellen Ausgabe fassen J. Stehli und B. Stähli in einem Übersichtsartikel sowohl die altbewährten als auch die neuesten Empfehlungen hinsichtlich der Diagnostik und Behandlung des gesamten Spektrums des ACS – vom NSTE-ACS über den STEMI bis hin zum ACS mit kardiogenem Schock oder Kreislaufstillstand – konzis zusammen (12). Im Zentrum der Mini-Review stehen praktische Empfehlungen für eine schnelle Diagnostik und zielgerechte Akut-Behandlung der Patientinnen und Patienten sowie eine Übersicht über die erwähnten neuen Erkenntnisse hinsichtlich der kompletten Revaskularisation und dualen Antiaggregation, die in der klinischen Praxis sehr hilfreich sind.

Prof. Dr. med. Stephan Windecker

Universitätsklinik für Kardiologie
Freiburgstrasse 18
3010 Bern

Jonas Dominik Häner hat keine Interessenkonflikte. Stephan Windecker gibt Forschungs-, Reise- oder Lehr-Grants an die Institution an von Abbott, Abiomed, Amgen, Astra Zeneca, Bayer, Braun, Biotronik, Boehringer Ingelheim, Boston Scientific, Bristol Myers Squibb, Cardinal Health, CardioValve, Cordis Medical, Corflow Therapeutics, CSL Behring, Daiichi Sankyo, Edwards Lifesciences, Farapulse lnc. Fumedica, Guerbet, ldorsia, lnari Medical, lnfraRedx, Janssen-Cilag, Johnson & Johnson, Medalliance, Medicure, Medtronic, Merck Sharp & Dohm, Miracor Medical, MonarQ, Novartis, Novo Nordisk, Organon, OrPha Suisse, Pharming Tech, Pfizer, Polares, Regeneron, Sanofi-Aventis, Servier, Sinomed, Terumo, Vifor, V-Wave. Stephan Windecker dient als Advisory Board Mitglied und / oder Mitglied von Steering-/Exekutivkommittees von Studien, welche durch Abbott, Abiomed, Amgen, Astra Zeneca, Bayer, Boston Scientific, Biotronik, Bristol Myers Squibb, Edwards Lifesciences, MedAlliance, Medtronic, Novartis, Polares, Recardio, Sinomed, Terumo und V-Wave unterstützt werden mit Zahlungen an die Institution aber ohne persönliche Zahlungen. Stephan Windecker ist ebenfalls Mitglied von Steering-/Exekutivkommittees verschiedener lnvestigator-initiierter Studien, welche von der Industrie unterstützt werden ohne Einfluss auf seine persönliche Vergütung.

1. Radovanovic D, Nallamothu BK, Seifert B, Bertel O, Eberli F, Urban P, et al. Temporal trends in treatment of ST-elevation myocardial infarction among men and women in Switzerland between 1997 and 2011. Eur Heart J Acute Cardiovasc Care. 2012;1(3):183-91.
2. Boeddinghaus JG, Oliver; Meier, Pascal; Muller, Olivier; Nietlispach, Fabian; Räber, Lorenz; Weilenmann, Daniel; Jeger, Raban. The SWISS PCI Survey – coronary and structural heart interventions in Switzerland 2020. Cardiovascular Medicine. 2022;25:75-8.
3. Windecker S, Latib A, Kedhi E, Kirtane AJ, Kandzari DE, Mehran R, et al. Polymer-based or Polymer-free Stents in Patients at High Bleeding Risk. N Engl J Med. 2020;382(13):1208-18.
4. Zhang J, Gao X, Kan J, Ge Z, Han L, Lu S, et al. Intravascular Ultrasound Versus Angiography-Guided Drug-Eluting Stent Implantation: The ULTIMATE Trial. J Am Coll Cardiol. 2018;72(24):3126-37.
5. Byrne RA, Rossello X, Coughlan JJ, Barbato E, Berry C, Chieffo A, et al. 2023 ESC Guidelines for the management of acute coronary syndromes. Eur Heart J. 2023.
6. Biccire FG, Haner J, Losdat S, Ueki Y, Shibutani H, Otsuka T, et al. Concomitant Coronary Atheroma Regression and Stabilization in Response to Lipid-Lowering Therapy. J Am Coll Cardiol. 2023.
7. Biscaglia S, Guiducci V, Escaned J, Moreno R, Lanzilotti V, Santarelli A, et al. Complete or Culprit-Only PCI in Older Patients with Myocardial Infarction. N Engl J Med. 2023;389(10):889-98.
8. Stahli BE, Varbella F, Linke A, Schwarz B, Felix SB, Seiffert M, et al. Timing of Complete Revascularization with Multivessel PCI for Myocardial Infarction. N Engl J Med. 2023.
9. Diletti R, den Dekker WK, Bennett J, Schotborgh CE, van der Schaaf R, Sabate M, et al. Immediate versus staged complete revascularisation in patients presenting with acute coronary syndrome and multivessel coronary disease (BIOVASC): a prospective, open-label, non-inferiority, randomised trial. Lancet. 2023;401(10383):1172-82.
10. Koskinas KC, Windecker S, Pedrazzini G, Mueller C, Cook S, Matter CM, et al. Evolocumab for Early Reduction of LDL Cholesterol Levels in Patients With Acute Coronary Syndromes (EVOPACS). J Am Coll Cardiol. 2019;74(20):2452-62.
11. Raber L, Ueki Y, Otsuka T, Losdat S, Haner JD, Lonborg J, et al. Effect of Alirocumab Added to High-Intensity Statin Therapy on Coronary Atherosclerosis in Patients With Acute Myocardial Infarction: The PACMAN-AMI Randomized Clinical Trial. JAMA. 2022;327(18):1771-81.
12. Staehli, Barbara E., Akutes Koronarsyndrom: Diagnose und Behandlung, PRAXIS (Bern 1994). 2024; 113 (1): 661-665.