- Der assistierte Suizid in der Schweiz (Teil 2)
Im 5-Jahres-Zeitraum 2018–2022 kam es nach Angaben des Schweizerischen Bundesamtes für Statistik (BFS) in der Schweiz zu 6608 assistierten Suiziden; von diesen erfolgte in 4766 Fällen (72%) die Suizidbegleitung durch Mitarbeiter der grössten Sterbehilfeorganisation EXIT. Nach den Daten von EXIT bildet die altersbedingte Multimorbidität mit 27 % aller Fälle nach den Krebserkrankungen die zweithäufigste Krankheitsgruppe beim assistierten Suizid. Aus formalen Gründen kann dieser symptomorientierte assistierte Alterssuizid in der ICD-basierten Todesursachenstatistik des BFS nicht adäquat erfasst werden. Diese «Statistikschwachstelle» führt dazu, dass die Schweiz zu dem medizinethisch und gesellschaftspolitisch kontrovers diskutierten Phänomen des assistierten Alterssuizids keine zuverlässigen Daten vorlegen kann. Es wäre daher angezeigt, ein nationales Register einzurichten, welches alle Fälle des assistierten Suizids präzise dokumentiert und kritisch begleitet.
Schlüsselwörter: Assistierter Suizid, Alterssuizid, Sterbehilfeorganisation, nationale Gesundheitsregister
Einleitung
Im zweiten Teil unserer Abhandlung zur Langzeitentwicklung der Fälle von assistierten Suiziden in der Schweiz wenden wir uns dem assistierten Alterssuizid zu. Diese Fälle sind nicht zu vernachlässigen, bilden sie doch seit vielen Jahren die nach Krebserkrankungen zweitgrösste Krankheitsgruppe unter den Fällen von assistiertem Suizid. Diese Fälle sind den symptomorientierten assistierten Suiziden zuzuordnen, d.h., zum Zeitpunkt des Todes lag keine Erkrankung vor, die in absehbarer Zeit auch zum natürlichen Tod geführt hätte. Da der assistierte Alterssuizid bisher weder national noch international mit der geltenden ICD-Klassifikation codiert werden kann, werden diese Fälle auch nicht adäquat in der vom Schweizerischen Bundesamt für Statistik (BFS) veröffentlichten Todesursachenstatistik abgebildet. In der Schweiz liegen damit zu dem medizinethisch und gesellschaftspolitisch brisanten Thema «assistierter Alterssuizid» keine «offiziellen» Daten vor.
Der assistierte Suizid in der Schweizer Todesursachenstatistik
Die vom BFS jährlich veröffentlichte Todesursachenstatistik ist eine obligatorische Vollerhebung und basiert auf den Angaben der Zivilstandsämter und der die Todesfälle meldenden Ärzte (Todesfallbescheinigung) (1). Die Daten liefern einen Überblick über das Sterbegeschehen und dokumentieren die Ursachen der Sterblichkeit in der Schweiz. Sie lassen Veränderungen im Zeitverlauf erkennen und geben Hinweise, durch welche präventiven oder medizinisch-kurativen Massnahmen sich die Lebenserwartung der Bevölkerung verbessert hat bzw. diese in der Zukunft weiter erhöht werden könnte. Erfasst werden dabei alle verstorbenen Personen der ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz. Die Erhebung umfasst neben Angaben zu Alter, Geschlecht, Zivilstand, Beruf, Wohngemeinde und Staatsangehörigkeit des Verstorbenen auch die Todesursachen; letztere werden nach der derzeit gültigen durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebene International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD; bis anhin Version ICD-10) erfasst (2). Da es bis heute in der ICD-Klassifikation keinen eigenen Code für den assistierten Suizid gibt, hat das BFS diese Fälle anfangs als Selbstmord durch Vergiftung eingestuft. Seit 2009 wurden die Fälle mit assistiertem Suizid dann durchgehend mit dem Code X61.8 als Begleitumstand des Todesfalls erfasst. Dabei handelte es sich um eine durch das BFS vorgenommene, das heisst auch nur in der Schweiz so praktizierte Erweiterung des bestehenden ICD-10-Codes X61 («Vorsätzliche Selbstvergiftung durch und Exposition gegenüber Antiepileptika, Hypnotika, Antiparkinsonmittel[n] und psychotrope[n] Substanzen») (3–8).
Die Daten zur Todesursache, welche in die Statistiken des BFS eingehen, stammen aus den Angaben der Sterbeurkunden. In diesem Dokument werden die Todesursachen von den Ärzten/Ärztinnen aus der Rechtsmedizin bzw. vom amtsärztlichen Dienst, welche die Todesfälle untersuchen, hinterlegt. Dazu liegt ihnen in fast allen Fällen ein von den Sterbehilfeorganisationen zusammengestelltes Dossier vor, welches auch die ärztlichen Berichte derjenigen, die den Sterbewilligen das tödliche Medikament rezeptiert haben, enthält. In diesen Berichten werden relevante Inhalte der Konsultationen und Beratungsgespräche festgehalten. Dokumentiert ist neben der dem Sterbewunsch zugrunde liegenden Erkrankung bzw. Situation auch eine Einschätzung über die vorhandene Urteilsfähigkeit desjenigen, der um die Sterbehilfe ersucht, sowie die Feststellung, dass der Wunsch zu sterben wohlerwogen, dauerhaft und ohne äusseren Druck entstanden ist. Bei bestimmten Indikationen, z.B. bei assistierten Suiziden wegen psychiatrischen Erkrankungen, liegen zudem in der Regel fachpsychiatrische Gutachten vor (7).
Das ICD-Regelwerk der WHO definiert diejenige Krankheit als Todesursache, welche am Anfang des zum Tode führenden Verlaufs steht. In diesem Sinne ist der assistierte Suizid in der Regel die Ultima Ratio am Ende eines schweren Krankheitsverlaufs (9). Wenn als Hauptkriterium zur Gewährung der Sterbehilfe das terminal illness requirement erfüllt ist, erlaubt diese Klassifikationspraxis in den meisten Fällen auch eine eindeutige Erfassung des Falles. Als Beispiel dazu können die Fälle angeführt werden, bei denen der assistierte Suizid im Spätstadium einer fortgeschrittenen Krebserkrankung erfolgt. Mit einer eher symptomorientierten Ausweitung der Einschlusskriterien, die auch einen Zustand «unerträglichen Leidens» als Rechtfertigung zum assistierten Suizid akzeptiert, stösst die ICD-Klassifikation aber an ihre Grenzen. Schon bei chronischen Schmerzsyndromen (z.B. schwere rheumatische Erkrankungen, Polyneuropathie) oder Erkrankungen, die sich mit neurologisch bedingten schweren Einschränkungen der Mobilität bis hin zu Lähmungen manifestieren (z.B. Morbus Parkinson, Multiple Sklerose, Zustand nach Schlaganfall, Unfallfolgen mit Tetraplegie), ist die ICD-Klassifikation kaum in der Lage, den Hintergrund des assistierten Suizids bzw. die Motivation des Sterbewilligen ausreichend darzustellen (7, 8). Die genannten Erkrankungen stellen in der Regel schwere, invalidisierende chronische Erkrankungen dar. Diese bedeuten für die betroffenen Patienten einen hohen Leidensdruck, meistens ohne Hoffnung auf eine Besserung ihrer Situation. Direkte Todesursachen im Sinne der Todesursachenstatistik sind sie aber nicht.
Der assistierte Alterssuizid, eine «unsichtbare» Entität in der Todesursachenstatistik
EXIT, die grösste Schweizer Sterbehilfeorganisation, unterstützt seit Jahren den «Altersfreitod» für Menschen in Fällen, «wenn die Summe ihrer Schmerzen und Gebrechen als unerträglicher Leidenszustand» empfunden wird (10, 11). Beim assistierten Alterssuizid scheitert das ICD-basierte Klassifikationssystem aber nun vollends. Hier liegen dem Sterbewunsch eine Vielzahl von Einflussfaktoren zugrunde: körperlich bedingte wie eine eingeschränkte Mobilität und ein vermindertes Seh- und Hörvermögen, aber auch soziale Faktoren wie eine Heimunterbringung oder die Einsamkeit nach Verlust des Ehepartners oder von Freunden (12–18). In manchen Fällen mögen auch finanzielle Aspekte, z.B. die Kosten eines langjährigen Aufenthalts in einer Pflegeeinrichtung, und generell das Gefühl, den Angehörigen nur noch «eine Last» zu sein (19), bei der Entscheidung, sterben zu wollen, eine Rolle spielen.
Wie sollte ein medizinisches Diagnosesystem wie das ICD gar das Gefühl eines Hochbetagten abbilden, der sein Leben gelebt hat und, jetzt «lebenssatt», aus dem Leben scheiden möchte? Welcher Code drückt eine Lebenssituation aus, in der die Aussicht auf die Zukunft bedeutet, dass die bereits jetzt vorhandenen Beschwerden, Einschränkungen und Abhängigkeiten sich nie wieder bessern, sondern sich im Gegenteil sogar verschlimmern werden?
Die ICD-Klassifikation kann bereits das natürliche Sterben eines hochbetagten, gebrechlichen und multimorbiden Menschen ohne assistierten Alterssuizid kaum adäquat abbilden. Der «Tod an Altersschwäche» ist in der ICD-10-Klassifikation gar nicht als eigenständiger Code für eine Todesursache vorgesehen, und die ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health, 20) wird bei Todesfällen nicht festgehalten. Dementsprechend kann für den assistierten Alterssuizid die für den Sterbewunsch zugrunde liegende «Kumulation von Altersbeschwerden» in der Todesursachenstatistik auch nicht erfasst werden. Wenn man derzeit die Fälle des assistierten Alterssuizids in einer ICD-basierten Todesfallstatistik erfassen will, muss in Ermangelung einer Codierungsmöglichkeit irgendeine der bei dem jeweiligen Patienten vorliegenden Erkrankungen als zugrunde liegend erfasst werden (7, 8). Hier ist es bei hochbetagten, multimorbiden Patienten auch meist problemlos möglich, je nach klinischer Gewichtung, eine der bestehenden Erkrankungen praktisch als Stellvertreter für die «Kumulation von Altersbeschwerden» anzugeben. Eine Analyse der vom BFS erfassten nicht krebsbedingten Fälle mit assistiertem Suizid der Jahre 2018–2022 – diese machen etwa 60 % der Fälle aus – zeigt, dass die Mehrheit dieser Menschen zum Zeitpunkt ihres Todes im 9. Lebensjahrzehnt standen (medianes Alter: 84 Jahre). So betrug zum Beispiel in den Kategorien «Herz-Kreislauf-Erkrankungen» (11.7 % aller assistierten Suizide), «Muskuloskelettale Erkrankungen» (10 % aller assistierten Suizide) und «Andere Erkrankungen» (12.7 % aller assistierten Suizide) das mediane Alter zum Zeitpunkt des Todes jeweils 86 Jahre. Zweifellos muss eine beträchtliche Zahl dieser Fälle dem Alterssuizid zugeordnet werden.
Der hohe Anteil des Alterssuizids in der Schweiz kann auch noch über eine Analyse der Geschlechterverteilung der Sterbehilfefälle rückgeschlossen werden. In der Schweiz besteht seit mehr als 20 Jahren bei den assistierten Suiziden ein «Frauenüberhang». Der Anteil von Frauen an Sterbehilfefällen liegt konstant bei 57–58 % (4, 21). Ein Vergleich mit anderen Ländern, die ebenfalls eine lange Sterbehilfetradition bzw. einen ähnlich hohen Prozentsatz von Sterbehilfefällen an der Gesamtzahl aller Todesfälle haben, zeigt, dass diese über die Jahre hinweg konstant eine nahezu ausgeglichene Geschlechterverteilung, sogar mit einer leichten Mehrheit an Männern, aufweisen (entsprechende Daten des Jahres 2022 für Männer in den Niederlanden: 50.6 % aller Sterbehilfefälle, in Belgien: 50.4 %, in Kanada: 51.4 %; in den US-Staaten Kalifornien: 51.6 %, Washington: 53 %, Oregon: 49.6 %) (22–27). Gleichzeitig liegt der Anteil krebsbedingter Fälle bezogen auf die Gesamtzahl aller Sterbehilfefälle in diesen Ländern bzw. US-Bundesstaaten mit 55–65 % deutlich höher als der entsprechende Schweizer Vergleichswert von 40 %. Schweizer Daten der Jahre 2018–2022 machen den Einfluss des Anteils krebsbedingter assistierter Suizide auf die Geschlechterverteilung bei der Suizidhilfe deutlich (28):
- Männer sterben häufiger an Krebs als Frauen (im oben genannten 5-Jahres-Zeitraum: männlich: n = 46 666 vs. weiblich: n = 38 916); die Rate der krebsbedingten Todesfälle in Bezug zur Gesamtzahl aller Todesfälle lag bei Männern bei 27 %, bei Frauen lag diese Rate bei 21 %.
- Innerhalb der assistierten Suizide betrug der Anteil krebsbedingter Sterbehilfefälle bei Männern 46 %, der der Frauen lediglich 35 %.
Der hohe Anteil männlich dominierter krebsbedingter Fälle führt zu einer ausgeglichenen Geschlechterverteilung innerhalb der Sterbehilfefälle. Anders als im internationalen Vergleich gilt dann für die Schweiz: je höher der Anteil nicht krebsbedingter Suizidhilfefälle, desto höher der Anteil an Frauen. Dass eine niedrige Rate krebsbedingter Fälle als Surrogatmarker für eine hohe Rate an assistiertem Alterssuizid herangezogen werden kann, macht ein Vergleich der BFS-Daten der Jahre 2018–2022 mit denen von EXIT deutlich. In diesem 5-Jahres-Zeitraum erfolgten in der Schweiz 6608 assistierte Suizide; von diesen erfolgte in 4766 Fällen (72 %) die Suizidbegleitung durch Mitarbeiter von EXIT. Der Verein EXIT publiziert seit 1987 die Anzahl der jährlich von ihm betreuten Sterbehilfefälle; seit 2010 berichtet der Verein auch die den assistierten Suiziden zugrunde liegenden Krankheiten bzw. Situationen (21). Anders als die rein ICD-basierte Todesursachenstatistik des BFS präsentiert EXIT diese Daten aber in einer Mischung aus krankheitsspezifischen und symptomorientierten Kategorien. Die »klassische» krankheitsspezifische und damit auch ICD-kompatible Kategorie betrifft die Krebserkrankungen. Nicht überraschend zeigen sich trotz unterschiedlicher Klassifikationspraxen hier weitgehend übereinstimmende Zahlen (BFS: 39 % aller assistierten Suizide; EXIT: 36 % aller von ihnen geleisteten Freitodbegleitungen, Abb. 1). Wenn der Sterbewunsch aber nicht auf fassbaren, in absehbarer Zeit zum natürlichen Tod führenden Erkrankungen beruhte, sondern eher auf symptomorientierten Beschwerden, so wurden diese Fälle in den EXIT-Statistiken in eigenen Kategorien zusammengefasst. Eine klar symptomorientierte Kategorie, das «chronische Schmerzsyndrom», stellt mit 10 % der Fälle die vierthäufigste Kategorie in der EXIT-Statistik dar. Die «Polymorbidität» machte sogar mehr als ein Viertel der Suizidhilfefälle aus; das mit 89 Jahren hohe mediane Alter der Menschen, deren assistierter Suizid in dieser Kategorie zusammengefasst wurde, verdeutlicht, dass hier im Wesentlichen das Phänomen des assistierten Alterssuizids abgebildet ist.
(Abb. 1) Die Gegenüberstellung beider Klassifikationssysteme zeigt, dass eine reine ICD-basierte Todesursachenstatistik keine klar nachvollziehbare und allen Fällen gerecht werdende Codierung leisten kann; die Klassifikation in «Stellvertreter»-Kategorien führt dann eher zu einer den wahren Sachverhalt verschleiernden Chiffrierung. Dieses könnte man verschmerzen, wenn diese Fehldokumentationen nur wenige Einzelfälle beträfen. Es betrifft aber etwa die Hälfte aller Fälle mit Suizidhilfe in der Schweiz (7, 8). Die Klassifikationsproblematik stellt also keine vernachlässigbare theoretisch-akademische «Statistikschwachstelle» dar. Sie führt dazu, dass die Schweiz in einer wichtigen gesellschaftlichen und essenziellen medizinethischen Kontroverse, nämlich der Frage, wie Fälle von Patienten behandelt werden sollen, die nicht an einer in naher Zukunft zum Tode führenden Erkrankung leiden, aber dennoch aufgrund ihrer für sie als unerträglich empfundenen Leidenssituation Sterbehilfe in Anspruch nehmen möchten, über keine genügenden Daten verfügt (7, 8).
Notwendigkeit eines zentralen Registers für assistierte Suizide
Insbesondere das in ICD-basierten, d.h. krankheitsorientierten Statistiken «unsichtbare» Phänomen des assistierten Alterssuizids verdient es aber, in den nächsten Jahren zuverlässiger erfasst zu werden. Die ICD-basierte offizielle schweizerische Todesursachenstatistik des BFS kann dieses Phänomen noch nicht adäquat abbilden, und die von EXIT publizierten Daten umfassen lediglich etwa drei Viertel aller in der Schweiz erfolgten Sterbehilfefälle. Die anderen in der Schweiz aktiven Sterbehilfeorganisationen publizieren keine detaillierten Daten hinsichtlich der von ihnen begleiteten Suizide. Diese Schwachstelle macht deutlich, dass die Schweiz ein nationales Register einrichten sollte, in dem die derzeit noch ausschliesslich bei den Amtsärzten bzw. in den rechtsmedizinischen Instituten archivierten Unterlagen zu den jeweiligen Sterbehilfefällen gesammelt und zentral nach einheitlichen Kriterien ausgewertet werden. Die Organisation eines solchen Registers läge dann wohl eher nicht beim BFS, sondern beim Bundesamt für Gesundheit. Die Jahresberichte aus Kanada und den Niederlanden zeigen exemplarisch, wie ausführlich und auf welch hohem Niveau dort die Zahlen zur Sterbehilfe der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden (23, 24). Offenbar besteht in diesen Ländern, anders als in der Schweiz, die Auffassung, dass der Staat und seine Organe mit der Legalisierung der Sterbehilfe auch eine gesellschaftliche Verantwortung übernehmen muss, dieses Phänomen sorgfältig zu dokumentieren, kritisch zu begleiten und, wenn nötig, auch zu steuern.
Tab. 1 zeigt einen Vorschlag, die Fälle des assistierten Suizids in sieben Kategorien, krankheits- und symptomorientiert, systematisch in einem Register zu erfassen. Auch mit diesem System kann es in Einzelfällen schwierig sein, eine eindeutige Zuordnung in eine der Kategorien vorzunehmen. Es gibt Erkrankungen und Zustände, deren komplexe Symptomatik Überschneidungen der Kategorien beinhalten. So besteht zum Beispiel ein gewisser Interpretationsspielraum, ob Fälle von Patienten, bei denen der assistierte Suizid im Rahmen einer Polyneuropathie oder schweren immobilisierenden rheumatischen Erkrankungen der Kategorie 3 (assistierter Suizid bei schweren neurologisch bedingten Symptomen) oder der Kategorie 5 (Chronische Schmerzzustände) zuzuordnen sind. Grundsätzlich bildet dieses System in Kombination mit krankheitsspezifischen ICD-Codes aber ein einfach anzuwendendes Instrument, das es erlaubt, das Phänomen des assistierten Suizids weit umfangreicher und aussagekräftiger abzubilden, als es mit der derzeit gültigen ICD-Klassifikation allein möglich ist.
Key Messages
• In der Schweiz erfolgen 25–30 % der assistierten Suizide wegen altersbedingter Multimorbidität.
• Aus formalen Gründen können diese symptomorientierten Sterbehilfefälle in der ICD-basierten Todesursachenstatistik des Bundesamtes für Statistik aber nicht adäquat erfasst werden.
• Diese «Statistikschwachstelle» führt dazu, dass die Schweiz keine zuverlässigen Daten zu dem medizinethisch und gesellschaftspolitisch kontrovers diskutierten Phänomen des assistierten Alterssuizids hat.
• Es wäre daher angezeigt, ein nationales Register einzurichten, welche alle assistierten Suizide sorgfältig dokumentiert; damit könnten dann auch die Fälle des assistierten Alterssuizids monitorisiert und, wenn nötig, auch kritisch begleitet werden.
Abkürzungen
BFS Schweizerisches Bundesamt für Statistik
WHO World Health Organization (Weltgesundheitsorganisation)
ICD International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems
Danksagung
Die Autoren danken dem Schweizerischen Bundesamt für Statistik für die Zurverfügungstellung der Daten der Todesursachenstatistik mit besonderer Berücksichtigung des Assistierten Suizids (AS). Besonderer Dank für jahrelange engagierte Unterstützung gebührt Christoph Junker, Epidemiologie und langjähriger Leiter der Vitalstatistik beim BwFS.
Ebenso danken wir EXIT für die Bereitstellung ausgewählter Daten bezüglich der Fälle des Assistierten Suizids, die von ihren Mitarbeitern begleitet wurden (jährliche Zahl der AS-Fälle, für jeden Fall: Alter zum Zeitpunkt des AS und zugrundeliegende Erkrankung/Situation).
Der Erstautor (U.G.) dankt Shaun McMillan für ihre enthusiastische Unterstützung im Rahmen des Gesamtpublikationsprojektes «Assisted suicide in Switzerland», insbesondere bei dem stilistischen Lektorat der englischsprachigen Originaltexte.
Dank gebührt Franziska Maduz für ihren wertvollen Beitrag bei der grafischen Darstellung der Daten.
Universität Basel
Medizinische Fakultät
Klingelbergstrasse 61
4056 Basel
uwe.gueth@unibas.ch
Facharzt Allgemeine Innere Medizin, ESH Specialist in Hypertension, Fellow SSPH+
Leiter International Center for Multimorbidity and Complexity in Medicine (ICMC)
Universität Zürich, Universitätsspital Basel (Klinik für Psychosomatik), Merian Iselin Klinik Basel
edouard.battegay@uzh.ch
– Unité d’éthique clinique,
Institut des Humanités en Médecine, CHUV-UNIL
– Chaire de soins palliatifs gériatriques,
Service de soins palliatifs et de support CHUV-UNIL,
Schweizerisches Bundesamt für Statistik
Sektion Gesundheit der Bevölkerung
Neuchâtel
Schweiz
Schweizerisches Bundesamt für Statistik
Sektion Gesundheit der Bevölkerung
Neuchâtel, Schweiz
Department for Psychiatry
University of California
San Diego, USA
Die Autoren bestätigen, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Keiner der Autoren ist Mitglied in einer der Schweizer Sterbehilfeorganisationen.
• In der Schweiz erfolgen 25–30 % der assistierten Suizide wegen altersbedingter Multimorbidität.
• Aus formalen Gründen können diese symptomorientierten Sterbehilfefälle in der ICD-basierten Todesursachenstatistik des Bundesamtes für Statistik aber nicht adäquat erfasst werden.
• Diese «Statistikschwachstelle» führt dazu, dass die Schweiz keine zuverlässigen Daten zu dem medizinethisch und gesellschaftspolitisch kontrovers diskutierten Phänomen des assistierten Alterssuizids hat.
• Es wäre daher angezeigt, ein nationales Register einzurichten, welche alle assistierten Suizide sorgfältig dokumentiert; damit könnten dann auch die Fälle des assistierten Alterssuizids monitorisiert und, wenn nötig, auch kritisch begleitet werden.
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PRAXIS
- Vol. 113
- Ausgabe 10
- November 2024