- Die klinische Relevanz der nicht-obstruktiven koronaren Herzkrankheit
In dieser Ausgabe von PRAXIS geben Dr. Hadzalic und Kollegen einen Überblick über das Thema mit einem Fokus auf Definition, Diagnostik und Ursachen. Das Krankheitsbild wird je nach klinischer Präsentation (stabile koronare Herzkrankheit versus akutes Koronarsyndrom) und Diagnostik (Ischämie versus keine Ischämie) grob in drei Entitäten eingeteilt: ANOCA (Angina bei nicht-obstruktiven epikardialen Koronarien), INOCA (Ischämie bei nicht-obstruktiven epikardialen Koronarien) und MINOCA (Myokardinfarkt bei nicht-obstruktiven epikardialen Koronarien). Diese wiederum lassen sich je nach Pathophysiologie weiter unterteilen.
Die klinische Relevanz der nicht-obstruktiven koronaren Herzkrankheit ist gross, wobei die genaue Prävalenz noch unklar ist. In kürzlich erschienenen Studiendaten zeigt INOCA eine Prävalenz von 13 % bei Patienten mit Angina pectoris und relevanter Ischämie in der nicht-invasiven Bildgebung (1). Darüber hinaus hat eine kürzlich durchgeführte Meta-Analyse bestätigt, dass fast die Hälfte der Patienten mit nicht-obstruktiver koronarer Herzkrankheit Anzeichen für eine koronare mikrovaskuläre Erkrankung und/oder einen Koronararterienspasmus aufweist (2).
Die nicht-obstruktive Koronarerkrankungen ist keine benigne Erkrankung: Eine Meta-Analyse, die 54 Studien mit über 35 000 Patienten umfasst, beobachtete eine höhere Inzidenz der Gesamtmortalität und der nicht tödlichen Myokardinfarkte bei Patienten mit nicht-obstruktiver koronarer Herzkrankheit im Vergleich zur Normalpopulation (3). Eine Kohortenstudie gibt genauere Zahlen: Patienten mit nicht-obstruktiver koronarer Herzkrankheit weisen ein 1.3- bis 1.8-fach höheres Risiko für schwerwiegende kardiovaskuläre Ereignisse, einschliesslich kardiovaskulärem Tod und Myokardinfarkt im Vergleich zur Normalpopulation auf (4). Bei Patienten mit mikrovaskulärer Erkrankung und eingeschränkter koronarer Flussreserve ist das Risiko für kardiale Ereignisse sogar viermal höher (5).
Leider wird bei einem Grossteil der Patienten mit nicht-obstruktiver koronarer Herzkrankheit nie die richtige Diagnose gestellt. Bleibt die Diagnosestellung aus, leiden die Patienten nicht nur unter einer verminderten Lebensqualität aufgrund wiederkehrender Brustschmerzen, sondern auch aufgrund unnötiger Krankenhauseinweisungen sowie wiederholter invasiver Eingriffe. Zudem werden die Patienten im Laufe der Krankheit stigmatisiert, da die Symptome fälschlicherweise als psychosomatisch interpretiert werden.
Relevant sind auch die Auswirkungen im Hinblick auf die Patientenversorgung und die Ressourcenzuweisung sowie die erhöhten Gesundheitskosten (6). Eine retrospektive Kohortenstudie aus Dänemark mit 11 223 Patienten verdeutlicht die Schwere dieses Problems. Sie zeigt, dass symptomatische Personen mit unterdiagnostizierter nicht obstruktiver-koronarer Herzerkrankung ein dreifach erhöhtes «Risiko» für eine erneute Hospitalisierung und ein 2.3-fach erhöhtes «Risiko» für eine erneute Koronarangiographie haben (7).
Diese alarmierenden Statistiken weisen auf eine nach wie vor gefährdete Bevölkerungsgruppe hin und verdeutlichen die Unzulänglichkeiten unserer derzeitigen Diagnose- und Behandlungssysteme. Sie unterstreichen zudem die Notwendigkeit, das Bewusstsein der Kliniker für die Prävalenz und Bedeutung der nicht-obstruktiven Koronarerkrankung zu schärfen. Ein Paradigmenwechsel ist vor allem bei der Diagnostik und Beurteilung dringend erforderlich, da nur eine Koronarangiographie mit Vasoreaktivitätstestung eine sichere Diagnose bringt. Die invasive physiologische Untersuchung kann nicht nur eine nicht-obstruktive koronare Herzerkrankung bestätigen, sondern lässt zudem eine Diagnose von Subtypen zu. Dazu gehören die mikrovaskulären Erkrankungen, die epikardialen Vasospasmen sowie Mischformen. Eine Übersicht der Subtypen wird in dieser Ausgabe der PRAXIS von Dr. Hadzalic und Kollegen schön ausgelegt.
Dass ein erheblicher Anteil der Patienten mit ischämischen Symptomen nicht in das traditionelle Schema der obstruktiven koronaren Herzkrankheit passt, unterstreicht die Komplexität und Heterogenität dieser Erkrankung sowie die Notwendigkeit für ein Umdenken unter Klinkern, insbesondere Kardiologen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass angemessene Diagnostik, gezielte Behandlungen und fortgesetzte Forschungsanstrengungen unerlässlich sind, um die besonderen Herausforderungen zu bewältigen, denen sich diese Patientengruppe gegenübersieht. Es ist an der Zeit, das Bewusstsein und das Verständnis für die nicht-obstruktive koronare Herzkrankheit innerhalb der kardiovaskulären Gemeinschaft und darüber hinaus zu erhöhen, und so den Weg für eine bessere Patientenversorgung zu ebnen.
Klinik für Kardiologie
Universitätsspital Zürich
8091 Zürich
julia.stehli@usz.ch
1. Reynolds H. R., Diaz A., Cyr D. D., et al. Ischemia With Nonobstructive Coronary Arteries: Insights From the ISCHEMIA Trial. JACC Cardiovasc Imaging. 2023;16:63-74.
2. Mileva N., Nagumo S., Mizukami T., et al. Prevalence of Coronary Microvascular Disease and Coronary Vasospasm in Patients With Nonobstructive Coronary Artery Disease: Systematic Review and Meta-Analysis. J Am Heart Assoc. 2022;11:e023207.
3. Radico F., Zimarino M., Fulgenzi F., et al. Determinants of long-term clinical outcomes in patients with angina but without obstructive coronary artery disease: a systematic review and meta-analysis. Eur Heart J. 2018;39:2135-46.
4. Jespersen L., Hvelplund A., Abildstrøm S. Z., et al. Stable angina pectoris with no obstructive coronary artery disease is associated with increased risks of major adverse cardiovascular events. Eur Heart J. 2012;33:734-44.
5. Lee S. H., Shin D., Lee J. M., et al. Clinical Relevance of Ischemia with Nonobstructive Coronary Arteries According to Coronary Microvascular Dysfunction. J Am Heart Assoc. 2022;11:e025171.
6. Shaw L. J., Merz C. N., Pepine C. J., et al. The economic burden of angina in women with suspected ischemic heart disease: results from the National Institutes of Health–National Heart, Lung, and Blood Institute–sponsored Women‘s Ischemia Syndrome Evaluation. Circulation. 2006;114:894-904.
7. Jespersen L., Abildstrom S. Z., Hvelplund A., et al. Burden of hospital admission and repeat angiography in angina pectoris patients with and without coronary artery disease: a registry-based cohort study. PLoS One. 2014;9:e93170.
PRAXIS
- Vol. 113
- Ausgabe 10
- November 2024