Einführung

Die (verpasste?) Chance der kardiovaskulären Prävention in der Schweiz

  • Die (verpasste?) Chance der kardiovaskulären Prävention in der Schweiz


Im vergangenen Jahrhundert waren Infektionskrankheiten und die hohen Raten an Kindersterblichkeit die Haupttodesursache in der Schweiz (1). Durch die medizinische Entwicklung und die Entdeckung von Antiinfektiva, insbesondere Antibiotika und eine verbesserte Versorgung, konnte die Lebenserwartung gesteigert und Infektionskrankheiten zurückgedrängt werden (2). Aktuell führen nicht übertragbare Erkrankungen die Ranglisten der Mortalität und Morbidität weltweit sowie in der Schweiz, mit kardiovaskulären Erkrankungen an der Spitze (3,4). In den letzten 100 Jahren ist die Entwicklung der Herz-Kreislauf-Erkrankungen (CVD) dem epidemiologischen Wandel und der globalen wirtschaftlichen Entwicklung gefolgt (5). Auch wenn sich in den letzten Jahrzehnten die Behandlung durch Einführung diverser Medikamente, Interventionen und Devices deutlich verbessert hat, sind kardiovaskuläre Erkrankungen für jeden dritten Tod verantwortlich und reflektieren mit der steigenden Prävalenz das ausserordentliche Tempo, das die Gesellschaft eingeschlagen hat (6).

In dieser Ausgabe von PRAXIS beschreiben Rosemann und Kollegen das aktuelle Thema der Prävalenz und Versorgung von kardiovaskulären Erkrankungen in der Schweiz. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Jahre mit verminderter Lebensqualität und Lebenserwartung, sogenannte DALYs (disability-adjusted life years), gelegt (7, 8). Das Konzept wurde 1993 erstmals im Weltentwicklungsbericht der Weltgesundheitsorganisation präsentiert (9). Dieses Konzept stammt ursprünglich aus dem Vereinigten Königreich und möchte sowohl die Lebensqualität als auch die Lebenserwartung als Zielgrösse von medizinischen Interventionen und insbesondere präventiven Bemühungen berücksichtigen (7, 8). Die Zusammenstellung von Rosemann et al. zeigt eindrücklich, dass in Bezug auf präventive Massnahmen in der kardiovaskulären Medizin einerseits ein grosses Potenzial durch die hohe Prävalenz von kardiovaskulären Risikofaktoren vorliegt, andererseits bezüglich der Versorgung und der praktischen Umsetzung dieser präventiven Massnahmen unzureichende Umsetzung auf nationaler und kantonaler Ebene vorliegt (10). Bei der Behandlung und Prävention kardiovaskulärer Krankheiten kommt es zu einigen verpassten Chancen, wenn es darum geht, die kardiovaskuläre Versorgung zu verbessern und unnötige Kosten zu vermeiden. Im Allgemeinen lassen sich diese Möglichkeiten für Verbesserung in sechs Kategorien im Krankheitskontinuum einteilen: Änderung der Risikofaktoren, Patient/-innen-Beteiligung, korrekte Diagnosen, Anwendung von first-line Empfehlungen, Anwendung von fortschrittlichen Behandlungen, Nutzung von zusätzlichen Diensten (11). Neben den sechs Kategorien mit Verbesserungspotenzial wird auch das Ausmass der Probleme dargestellt.
Exemplarisch sei eine Kategorie mit grossem Verbesserungspotenzial herausgegriffen: körperliche Inaktivität. Sie ist, neben ungesunder Ernährung, Tabakkonsum und übermässigem Alkoholkonsum, einer der wesentlichsten verhaltensbedingten Risikofaktoren für Herzerkrankungen (12, 13). Körperliche Inaktivität oder Sitzen wird als das neue Rauchen bezeichnet (14) und führt zu erhöhtem kardiovaskulären Risiko und Mortalität (15). Im Gegensatz dazu senkt körperliche Aktivität das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen (16). Wissen und Aufmerksamkeit für die positiven Effekte von Bewegung sind daher wichtige Bestandteile für Prävention in der Bevölkerung. Das Konzept für körperliche Aktivität ist in vielen Aspekten sehr früchtetragend, denn mit wenig Aufwand können sehr hohe Effekte in vielen Bereichen erzielt werden (17).

Neben der Bedeutung für unsere Patientinnen und Patienten stellt kardiovaskuläre Prävention auch ein riesiges Potenzial aus gesundheitsökonomischer Sicht dar (18). Rosemann und Kollegen bewerten das ökonomische Potenzial einer optimalen kardiovaskulären Behandlung in der Schweiz, indem sie direkte und indirekte Kosten von kardiovaskulären Erkrankungen beziffern und das Potenzial für individuelle Gesundheit und vermeidbare ökonomische Belastungen darlegen. Das ungenutzte Potenzial einer optimalen kardiovaskulären Risikofaktorenkontrolle wird mit 69,3 % kumulativer Reduktion der Risikofaktoren für kardiovaskuläre Erkrankungen beziffert. Dies würde 9,3 Milliarden CHF pro Jahr sparen und neben sozioökonomischen Aspekten ca. 233 000 DALYs vermeiden. Der vermeidbare sozioökonomische Schaden wird mit 22,6 Milliarden CHF durch optimale kardiovaskuläre Risikofaktorenkontrolle beziffert. Diese eindrücklichen Zahlen sollten als Weckruf für die medizinische Community, aber auch für sämtliche Entscheidungstragende im Gesundheitswesen fungieren. Diese Zahlen sollen auch als Anstoss für ein gemeinsames Anpacken für eine nationale Strategie zur optimalen Kontrolle von kardiovaskulären Risikofaktoren dienen. Nur ein gemeinsamer Ansatz von kantonalen und nationalen Entscheidungstragenden, Vertretenden aus dem Versicherungs- und Bildungswesen, Vertretenden von Patientinnen und Patienten und sonstigen Stakeholdern kann diese unzufriedenstellende Situation in Richtung optimierter Gesundheitsversorgung bewegen.

Gloria Petrasch, MSc, BEd
PD Dr.med. David Niederseer, PhD, BSc
Hochgebirgsklinik Davos
Medizincampus Davos, Davos, Switzerland
Herman-Burchard-Strasse 1
7265 Davos Wolfgang
david.niederseer@hgk.ch

PD Dr. med. David Niederseer

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