- Empfehlungen für die Diagnostik und Therapie der Behavioralen und Psychischen Symptome der Demenz (BPSD)
Die «Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie der Behavioralen und Psychischen Symptome der Demenz (BPSD)» sind parallel zur Nationalen Demenzstrategie der Schweiz 2014-2019 unter der Federführung der Schweizerischen Gesellschaft für Alterspsychiatrie und –psychotherapie (SGAP) entstanden und markieren den Beginn einer Reihe von Empfehlungen für alterspsychiatrische Erkrankungen. Sie bilden den evidenzbasierten und auf die klinische Erfahrung der Experten aufbauenden aktuellen Stand des Wissens über Diagnostik und Therapie ab und sind interprofessionell und interdisziplinär ausgelegt. Die nicht-pharmakologischen Interventionsmöglichkeiten und die Pharmakotherapie werden ausführlich diskutiert. Die vorliegende Version ist die revidierte Fassung der Publikation vom 2014 und stellt die Entwicklung in diesem Bereich für den klinischen Alltag zusammen.
Bei Demenzerkrankungen treten neben kognitiven Störungen eine Reihe von psychiatrischen Symptomen auf, die den Verlauf erschweren, und eine grosse Belastung für Betroffene und deren Betreuenden darstellen [1-3]. Die sogenannten BPSD (Behaviorale und Psychische Symptome der Demenz) umfassen Symptome wie Apathie, Depression, Euphorie, Angst, Agitation/Aggressivität, Wahn, Halluzinationen, motorische Unruhe, Irritabilität/Reizbarkeit, Enthemmung (sexuell und/oder Hypo-/Hyperoralität) und Schlafstörungen. Fast alle Betroffenen mit Demenz entwickeln im Verlauf der Erkrankung mehrere BPSD. Die häufigsten BPSD sind Apathie und Depression [3]. Depression tritt vor allem in der Frühphase der Demenz auf und kann eine prodromale Symptomatik sein. Psychotische Symptome sind eher im späteren Verlauf zu erwarten. Schlafstörungen umfassen eine Abnahme der nächtlichen Schlafdauer, Fragmentation des Schlafs mit mehr Aufwachphasen, Müdigkeit tagsüber, Reduktion des REM-Schlafs und das sogenannte «Sundowning» mit Angst, Agitation und Verwirrtheit gegen Abend. Die Diagnostik und die Therapie der BPSD sind erschwert durch die Multimorbidität und «Frailty», und der darauf basierenden Polypharmazie in dieser Altersgruppe. Eine wohlerwogene und der Situation angepasste Indikationsstellung der vorhandenen therapeutischen Möglichkeiten, die auf möglichst evidenz-basierten Daten beruhen, ist deshalb unerlässlich.
Eine interprofessionelle und interdisziplinäre Expertengruppe unter der Federführung der Schweizerischen Gesellschaft für Alterspsychiatrie und –psychotherapie (SGAP) hat 2014 die Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie der BPSD in Kurz- und Langversion erarbeitet [1, 2]. 2021-2023 wurden die Empfehlungen revidiert und ausgebaut, und stehen 2024 als umfassendes Manual zur Verfügung [3]. Die vorliegende Kurzversion basiert auf diesem Manual und soll die wesentlichsten Themen für ein breiteres Publikum zusammenfassen. Die beiden Publikationen haben das Ziel die Grundsätze der BPSD-Diagnostik und -Therapie auf der Basis der aktuellen Evidenz und der klinischen Erfahrung abzubilden.
Einleitung
Für die in der Alterspsychiatrie eingesetzten Arzneimittel fehlen sehr oft die kontrollierten Studien und es sind kaum neue Zulassungen vorhanden. Deswegen muss die Evidenzlage durch Konsensus-Empfehlungen – wie die vorliegenden für die BPSD – von Expertinnen und Experten ergänzt werden, um die klinische Erfahrung in diesem Bereich abzubilden. Die Evidenzlage ist vor allem für nicht-medikamentöse Therapiemöglichkeiten sehr dünn. Die Empfehlungen sollen diese durch die Abbildung der klinischen Expertise unterstützen und in den Vordergrund stellen. Da der Einsatz von Psychopharmaka in dieser multimorbiden Patientengruppe oft mit Nebenwirkungen und Interaktionspotential verbunden ist, werden die nicht-medikamentösen Therapien als Therapie der ersten Wahl empfohlen. Diese sollen auch dann weiter eingesetzt werden, wenn Psychopharmaka zum Einsatz kommen.
Die Empfehlungen sind interprofessionell und interdisziplinär aufgestellt. Dies entspricht dem ganzheitlichen Ansatz der Therapie der Alterserkrankungen. Für die Umsetzung vor allem der nicht-medikamentösen Therapien und der standardisierten Assessments braucht es pflegerisches, therapeutisches und medizinisches Fachpersonal, welches regelmässig geschult und alterspsychiatrisch supervidiert werden soll, sowie spezifisch eingerichtete Abteilungen mit entsprechender altersgerechter Infrastruktur, die Aktivierung, Teilhabe, Geborgenheit, Mobilität und Orientierung fördern [3].
Für die Psychopharmakotherapie der BPSD kommt erschwerend hinzu, dass z.B. bei den Antipsychotika nur zwei Substanzen (Haloperidol und Risperidon) für diese Indikation zugelassen sind, und der Einsatz anderer Medikamente «Off-Label» erfolgt. Das ist zwar grundsätzlich möglich, wenn die «Therapie nach anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst» durchgeführt und «erhöhte und hinreichende Aufklärungs- und Dokumentationspflicht» eingehalten wird, bedeutet aber zusätzliche Erschwernisse wegen der krankheitsbedingten Urteilsunfähigkeit bei der Patientenaufklärung, der umfassenden Informationspflicht sowie dem Erstellungsaufwand des Behandlungsplanes. Dadurch stehen den Betroffenen oft nicht alle Therapieoptionen zur Verfügung, wodurch sich ethische und therapeutische Probleme ergeben können [3].
Pathogenetische Faktoren
Neurobiologisch
Strukturelle und Neurotransmitter-Veränderungen tragen zur Entstehung der BPSD bei [3]. Der anteriore cinguläre und der orbitofrontale Kortex sind in meisten Fällen betroffen. Die Störung des fronto-limbischen Systems, welches mit dem Hippocampus, Amygdala, Nucleus Caudatus und dem frontalen Kortex verbunden ist, ist für die Entstehung der Depression verantwortlich, während Läsionen des anterioren cingulären, subkortikalen Schaltkreises zur Apathie führen können. Bei der Agitiertheit liegt oft ein serotonerges Defizit vor bei relativ gut erhaltener dopaminerger Funktion und Überaktivität postsynaptischer noradrenerger Neuronen. Bei der Entstehung der psychotischen Symptome sind neben der dopaminergen mesolimbischen Bahn serotonerge und glutamaterge Systeme betroffen.
Psychosozial
Zu den innerpsychischen Faktoren gehören unerfüllte Lebensaufgaben, die ältere Menschen umtreiben, und ein dissoziatives Erleben von sich selbst und der Umwelt. Zusätzlich haben Umgebungsfaktoren wie die Belastung von Angehörigen, Kommunikationsstil der Betreuenden und Mangel an angenehmen und sinnvollen Alltagsaktivitäten einen grossen Einfluss auf die Entstehung der BPSD. Diese werden nach dem «Bedürfnisorientierten Verhaltensmodell bei Demenz» als Ausdruck von unbefriedigten Bedürfnissen verstanden. Sie können auch Reaktionen auf Verhaltensweisen von Betreuenden sein, die Stress und negative Emotionen auslösen.
Infrastruktur
Architektonische und andere Umgebungsfaktoren wie das Design und die Einrichtung der Räumlichkeiten, Beleuchtung, Geräusche, Gerüche, Temperatur und betriebliche Routinen können die Entstehung von BPSD begünstigen oder positiv beeinflussen. Die bestmögliche Wohnform für Menschen mit Demenz scheint das Zusammenleben in kleinen Gruppen zu sein. Klare und übersichtliche Raumaufteilung mit sicheren Bewegungsmöglichkeiten und Bereiche für das soziale Leben, Rückzug und Ruhe sowie ein eigenes Zimmer für die Privatsphäre sind wichtige zusätzliche Massnahmen.
Ko-Morbiditäten
Zusätzlich können medizinische Faktoren wie Harnwegsinfekt, Anämie, Schilddrüsenunterfunktion, Verstopfung, Elektrolytstörung, Niereninsuffizienz, Hypoxie, Infektionen, Schmerzen, zerebrovaskuläre Ereignisse, Traumata, Hörminderung sowie Medikamente (insbesondere anticholinerge Arzneimittel und Opioide) BPSD verursachen.
Interprofessionelle und interdisziplinäre Zusammenarbeit als Basis der Diagnostik und Therapie
Der Grundsatz der Personenzentrierung über den gesamten Krankheitsverlauf, die Multimorbidität, die Multifaktorialität der BPSD, und die Notwendigkeit unterschiedlicher Assessmentverfahren und Therapien machen einen interprofessionellen und interdisziplinären ganzheitlichen Ansatz notwendig. Der Behandlungserfolg hängt von Absprachen und der Koordination im Team ab, um auf der Basis der Beobachtung der Betroffenen laufend Anpassungen durchführen zu können. Die Förderung der interprofessionellen Zusammenarbeit beginnt in der Ausbildung und kann mit Rotationen, Supervision, Fortbildung und der Entwicklung einer gemeinsamen Konzeption und ethischen Haltung gefördert werden. Die Grundlage ist die Finanzierung der koordinierten Versorgung durch Tarifsysteme [3].
Ganzheitliche Ansätze und strukturiertes Vorgehen
Während punktuelle Interventionen im BPSD-Management nur kurzfristig wirken, wenn die Umgebung der Betroffenen nicht deren Bedürfnissen angepasst wird, sind ganzheitliche Konzepte, die möglichst alle Aspekte des Lebens und Erlebens im sozialen Umfeld und die BPSD-auslösenden Faktoren berücksichtigen, erfolgreicher. Drei Ansätze sind gut untersucht [3]:
Personzentrierter Ansatz
Die Methode wird definiert durch drei Kernthemen mit je zwei Unterthemen: Auf die betroffene Person bezogen (mit ausgesprochener Individualisierung der Pflege mit Bezug auf die Bedürfnisse der Person und Berücksichtigung der interpersonellen Dimension in der Beziehungsgestaltung), auf die Praxis bezogen (mit Respekt und Empathie begegnen unter Wahrung der Autonomie und Privatsphäre, und genügend Raum geben zum Verstehen und um wahrzunehmen) und auf die Machtverhältnisse bezogen (mit Abbau von ungleichen Machtverhältnissen und Hindernisse überbrücken in der Arbeitsplatzkultur und in den Rahmenbedingungen). Der Ansatz beruht darauf, dass Lebensqualität und Wohlbefinden fördernde Massnahmen in den Umgebungsfaktoren, Individualisierung der Pflege und Entwicklung und Aufrechterhaltung von Pflege- und Betreuungsfertigkeiten BPSD positiv beeinflussen können.
Das Modell besteht aus folgenden Domänen: übergeordnete Faktoren (Gesundheitspolitik, Personalentwicklung und Verankerung in der strategischen Ausrichtung), Faktoren welche die Fachpersonen erfüllen müssen (Selbstkenntnis, berufliche Kompetenz und Engagement), Umgebung der Pflege (angemessener Skill-Mix, gemeinsame Entscheidungsprozesse, effektive Teambeziehungen, unterstützende Organisation und Innovation), personzentrierte Pflegeprozesse (gemeinsame Entscheidungen, die mit den Werten und Überzeugungen der Betroffenen arbeiten, und ganzheitlich pflegen, engagiert im Kontakt und mit Empathie). Diese Voraussetzungen und Prozesse unterstützen personzentrierte Resultate (positive Pflegeerfahrung, Wohlbefinden und eine gesundheitsfördernde Kultur).
Eden Alternative und Green House Model
Die Modelle betreffen vor allem die Langzeitpflege und sollen helfen, Hierarchien in der Betreuungssituation abzubauen, Betroffene mitentscheiden zu lassen und das institutionelle Leben häuslich zu gestalten. Dadurch sollen Einsamkeit und Sinnlosigkeit gelindert werden. Mit Pflanzen, Tieren und sozialen Kontakten wird eine möglichst private Umgebung geschaffen. Das Green House Modell sieht eigenständige Wohnungen bis max. 10 Personen vor mit gemeinsamen Wohn-, Garten und Küchenbereich und qualifiziertem Personal.
Der Montessori Ansatz
Ziele des Konzeptes sind Selbstständigkeit, Unabhängigkeit und Lebensqualität zu erhalten und zu verbessern. Selbstkorrigierende Aktivitäten, wo der Betroffene eine Rückmeldung zum Erfolg der Umsetzung erhält, sind Hauptelemente. Die Aktivität wird demonstriert und angeleitet, und ohne Ablenkung durchgeführt. Sie soll sinnvoll sein und auf die Bedürfnisse zielen. Alltägliche, vertraute Materialien werden integriert. Die Aktivität wird in einzelne Schritte aufgegliedert und am Ende wird ein Feedback gegeben. Für Gruppenaktivitäten sind z.B. Lesungen oder Rollenspiele geeignet. Betroffene sollen positive Gefühle und Erfolge erleben.
Strukturiertes Vorgehen
Für die nachhaltige Reduktion der BPSD müssen bei betroffenen Personen die individuelle Ursache, Auslöser und Beweggründe für die Verhaltensweise gefunden werden [3]. Für die strukturierte Vorgehensweise liegen Modelle vor, die auf NDB (Need-Driven Dementia-Compromised Behavior-Modell; Bedürfnisbedingtes Demenz-Verhaltensmodell) beruhen.
Serial Trial Intervention (STI)
STI ist ein abgestuftes Behandlungsprotokoll mit fünf Schritten: erste und zweite Schritte beinhalten eine körperliche und affektive Bedarfsanalyse, der dritte Schritt nicht-pharmakologische Interventionen, der vierte eine Schmerzbehandlung und der fünfte pharmakotherapeutische Interventionen.
Verstehende Diagnostik
Bei diesem Ansatz handelt es sich um einen systematischen Prozess der Entwicklung eines Verständnisses im interprofessionellem Team zusammen mit den Angehörigen. Zwei Instrumente haben sich besonders bewährt: ABC-Verhaltensanalyse und IdA (das Innovative demenzorientierte Assessmentsystem). Die ABC-Verhaltensanalyse ist Bestandteil beider Instrumente: A «Mögliche Auslöser», B «Beobachtetes Verhalten» und C «Konsequenzen/Folgen/Rektionen».
TIME
TIME (Targeted Interdisciplinary Model for Evaluation and Treatment of neuropsychiatric Symptoms) ist eine strukturierte Fallbesprechung mit folgenden Schritten; Die Registrierungs- und Bewertungsphase, die geführte Reflexionsphase und die Aktions- und Evaluierunsgphase.
DICE
DICE (Describe, Investigate, Create and Evaluate) empfiehlt bei BPSD die folgenden Schritte: Beschreiben (Symptome), Ermitteln (modifizierbare Ursachen), Entwickeln (Behandlungsplan) und Bewerten (Massnahmen überprüfen).
BPSD-DATE
Eine Arbeitsgruppe der Schweizer Universitätskliniken empfiehlt zur Evaluation von BPSD den DATE-Algorithmus als multimodales Instrument und als Weiterentwicklung von DICE.
Multimodales Assessment
Psychopathologische und neuropsychologische Assessment-Verfahren
Für das Assessment von BPSD wird ein standardisiertes Vorgehen mittels Fremdbeurteilungsinstrumenten empfohlen [3]. Von den 138 publizierten Instrumenten eignen sich das «Neuropsychiatrische Inventar» (NPI) und «Behavioral Pathology in Alzheimer’s Disease Rating Scale» (BEHAVE-AD) als die besten Verfahren für die klinische Routine resp. Forschung wobei BEHAVE-AD in deutscher Sprache nicht vorliegt. Das NPI umfasst 12 neuropsychiatrische Symptome: Wahn, Halluzinationen, Erregung/Aggression, Depression/Dysphorie, Angst, Euphorie, Apathie, Enthemmung, Reizbarkeit, abweichendes motorisches Verhalten, Schlaf- und Essstörung mit zusätzlichen symptomspezifischen Fragen. Die betreuenden Angehörigen werden befragt und deren Belastung festgehalten. Weil die Durchführung des NPI sehr zeitaufwendig ist, wurde der NPI-Questionnaire (NPI-Q) entwickelt. Bei diesem Verfahren entfallen die symptomspezifischen Fragen und eine selbstständige Beantwortung der Fragen durch Betreuende ist möglich. Teilweise bieten die Bedarfserhebungsinstrumente RAI und BESA bereits in der Langzeitpflege nützliche Assessments.
Die «Geriatrische Depressionsskala» (GDS) ist ein Selbstbeurteilungsbogen mit 15 Fragen, die mit «Ja» oder «Nein» beantwortet werden sollen. Inhaltlich ist sie sehr einfach und kann auch bei Betroffenen mit einer leichten Demenz eingesetzt werden. Das «Cohen-Mansfield Agitation Inventory» (CMAI) ist ein Fremdbeurteilungsbogen für die detaillierte Erfassung der Agitiertheit.
Nach dem «BPSD-DATE Interventionsalgorithmus» erfolgt zuerst eine Beschreibung der Problemsituation mit Angaben zu Kontext, Auslösern und Sicherheitsaspekten. Im zweiten Schritt wird die Situation analysiert mit subjektiven Erklärungsversuchen. Im dritten Schritt erfolgen die Planung und Umsetzung der Interventionen und im vierten Schritt die Evaluation mit eventueller Anpassung der Massnahmen. Dieses standardisierte Vorgehen wird zur Qualitätsverbesserung empfohlen.
Differentialdiagnostik
Delir und Altersdepression zeigen die grösste symptomatische Überlappung mit BPSD. Andere Diagnosen wie affektive und schizophrene Psychosen, zerebrovaskuläre Ereignisse, zerebrale Neoplasien sowie intellektuelle Entwicklungsstörungen sind ebenfalls in der Differentialdiagnose zu berücksichtigen.
Delir ist ein meist akutes Ereignis mit fluktuierender Symptomatik und Bewusstseinsstörung, während eine Demenz eine chronische Erkrankung ist ohne Einschränkungen des Bewusstseins. Wenn die Ursache gefunden und behandelt wird, ist ein Delir rückläufig. Die hyper- und hypoaktiven Subtypen des Delirs unterscheiden sich symptomatisch. Neben einer ausführlichen Anamnese bezüglich der Risikofaktoren ist beim Delir eine ursachenorientierte Labordiagnostik notwendig. Die gängigsten eingesetzten Skalen sind «Delirium Observation Skale» (DOS) und «Confusion Assessment Method» (CAM), und neu 4AT und I-AgeD.
BPSD wie Depression, Angst, Apathie und Schlafstörungen erschweren die Differentialdiagnose zur Altersdepression. Bei der letzteren stehen bei der neuropsychologischen Untersuchung die Störungen der exekutiven Funktionen, des episodischen Gedächtnisses, der Aufmerksamkeit und der Verarbeitungsgeschwindigkeit im Vordergrund. Bei der Demenz dagegen liegen vor allem primäre Gedächtnisstörungen, aphasische und konstruktiv apraktische Symptome sowie Störungen beim Wiedererkennen und der Orientierung vor.
Psychosoziale Massnahmen in der Pflege
Massnahmen zu Befähigung von Teams
Organisationskultur ist ein Schlüsselfaktor im Umgang mit BPSD [3]. Die Teams sollen befähigt werden, den nicht-pharmakologischen Massnahmen den Vorzug zu geben um BPSD zu reduzieren. Schulungen (Vorträge, Workshops, webbasiert) sind wirksame Instrumente, wenn sie langfristig und repetitiv angeboten werden. Sie können die Selbstwirksamkeit erhöhen. Mit betroffenen Personen und deren Angehörigen gemeinsam entwickelte Pflege- und Behandlungsplanungen, die individuelle Fähigkeiten berücksichtigen, sowie Fallbesprechungen als Teil multidimensionaler Interventionen sind ebenfalls wirksam und können die Belastung der Pflegenden und Betreuungspersonen reduzieren. Unterstützung der Angehörigen mit Gesprächen und Psychoedukation schafft die Grundlage für psychosoziale Massnahmen. Wenn sie die Gründe für die BPSD verstehen, können Angehörige konstruktiv in die Therapieplanung und –umsetzung integriert werden.
Massnahmen bei Betroffenen
Beziehungsgestaltung, personenzentrierte Pflege und ein Kultur-/Prozesswandel zugunsten von psychosozialen Massnahmen sind die Voraussetzungen für wirksame Interventionen. Sie werden multiprofessionell angeboten. Ausreichende Zeit- und Personalressourcen sind für die Wirksamkeit ebenso notwendig wie Schulungen und Praxisbegleitungen, damit Pflege- und Betreuungspersonen ihren Handlungsspielraum im Umgang mit Menschen mit Demenz erweitern können. Insgesamt werden drei Kategorien unterschieden [3]:
Sensorisch-orientiert (Pflege mit Musik, Aromapflege, Licht, Snoezelen, Sensory Garden, Tiergestützte Aktivitäten, Intelligente Assistive Technologien, Massage/Berührung, Basale Stimulation, Positive Image Therapie und Clown Therapie), kognitions-orientiert (Simulierte Präsenztherapie, Kognitions- und Kommunikationsorientierte Methoden, und Validation) und bewegungsorientiert (Bewegung, Outdoor Aktivitäten, Tanz und Kinästhetik). In allen Kategorien liegt Evidenz unterschiedlichen Grades zur Wirksamkeit der Massnahmen vor. Zentral ist immer wieder, dass die Massnahmen auf den jeweiligen Menschen mit Demenz mit seinen spezifischen Symptomen und seiner Geschichte angepasst werden.
Umgebung
Anpassung der Umgebungsfaktoren mit Vermeidung von Reizüberflutung und -armut hat positiven Einfluss auf BPSD. Betroffene profitieren von kleinen, wohnlich eingerichteten Wohneinheiten, die L- oder H-förmigen oder quadratischen Grundriss haben. Die Anzahl der BewohnerInnen sollte 15 nicht überschreiten. Licht/Beleuchtung, Farben/Kontraste, Temperatur, Akustik, olfaktorische Aspekte, Installationen (Handläufe, Kücheneinrichtung, Nasszellen usw.) und Vertrautheit der Räume sind zusätzliche Faktoren, die eine Rolle spielen.
Umgang mit spezifischen Verhaltensweisen
Aggressivität
Für die Reduktion von Aggressivität ist die Minimierung der Belastung von betreuenden Angehörigen und Pflege entscheidend. Diese sollen genügend Unterstützung und Ressourcen zur Verfügung haben. Schulungen, Trainings und Fallbesprechungen haben sich bewährt. Kleinere Wohngruppen, Wahrung der Privat- und Intimsphäre, Gestaltung der Umgebung und des Alltags nach individuellen Bedürfnissen, stressarme Körperpflege und Schlafhygiene sind wirksame Massnahmen. Auf Musik basierte Ansätze, Bewegung, Tanzen, Massage/Berührung und Aktivitäten im Freien können zusätzlich helfen.
Sexuelle Enthemmung
Das eigene Reflektieren zum Thema Sexualität ist die Grundlage des Umgangs. Trotzdem kann sexuelle Enthemmung von den Pflegenden als Belästigung aufgefasst werden. Eine Balance zwischen den individuellen Rechten der Betroffenen und dem Schutz der Pflege- und Betreuungspersonen soll gefunden werden. Schulungen, Fallbesprechungen und ein strukturiertes Vorgehen mit Analyse des Verhaltens und der Auslöser sowie eine individuelle Pflegeplanung können präventiv wirken. Massnahmen wie Ignorieren von unangemessenen Äusserungen, Ablenken, Unterbrechen der Pflegehandlung, Kommunizieren eines deutlichen «Nein», Sicherheitsabstand, Einsatz von zwei Pflege- und Betreuungspersonen, Einsatz von Requisiten als Barrieren, Einschränken der Aktivitäten, Identifizierung der Auslöser, Schaffen eines privaten Raumes und Einsatz von Validationstechniken sind wirksam.
Disruptive Vokalisation
Kognitive Funktionsverluste, Depression, Angst, sprachliche Schwierigkeiten, sensorische Deprivation, Schlaflosigkeit und Schmerzen können ursächlich für die repetitiven Vokalisationen verantwortlich sein, die für die Umgebung sehr belastend sind. Medikamente sind hier nicht wirksam. Eine gründliche medizinische und pflegerische Anamnese und eine an den Ursachen orientierte individuelle Pflegeplanung sind notwendig. Ablenken, Snoezelen, Namaste Care sowie auf Musik, Zuwendung und Berührung basierende Interventionen können helfen.
Kognition-stabilisierende Therapien
Obwohl die Studienlage sehr heterogen ist, sind Interventionen wie Kognitive Stimulation und Reminiszenztherapie wirksam. Dabei sind kombinierte, personzentrierte Methoden Einzelinterventionen überlegen, insbesondere in der Förderung des allgemeinen Wohlergehens, der Kognition und Transfereffekte.
Psychotherapeutische Verfahren
Es besteht eine gute Evidenzlage für die Wirksamkeit von Psychotherapie bei leichten bis mittelschweren Demenz-Erkrankungen. Vor allem Symptome wie Depression und Angst sprechen gut an. Bei betreuenden Angehörigen, die eine Depression entwickeln, sind sie ebenfalls wirksam. Vor allem die kognitive Verhaltenstherapie und Lebensrückblickinterventionen sind bewährte Techniken. Spezifisch zugeschnittene Interventionen zeigen eine höhere Wirksamkeit als Standardverfahren.
Spezialtherapeutische Angebote
Musiktherapie
Musiktherapie ist vor allem bei Angst und Depression wirksam, die Wirkung ist aber nicht lange anhaltend. Sie soll regelmässig, mindestens einmal in der Woche, angepasst an die Alltagsstruktur des Betroffenen, angeboten werden. Die Biographie und die Vorlieben sind zu berücksichtigen. Sie kann gut mit anderen Interventionen kombiniert werden.
Kunsttherapie
Vor allem Depression, Apathie, Agitation und Aggression sprechen gut auf die Kunsttherapie an. Sie ist wirksam, wenn sie den individuellen Bedürfnissen und Präferenzen angepasst wird. Als Medium kann sie Emotionen ansprechen, um Stress abzubauen und Entspannung zu erleben eingesetzt werden. Die Kunsttherapie kann Kommunikation, Alltagsfähigkeiten und Reminiszenz fördern.
Aktivierungstherapie/Ergotherapie
Trotz der sehr heterogegen Studienlage wird die Ergotherapie empfohlen. Sie reduziert den medizinisch-pflegerischen Aufwand, vor allem, wenn sie strukturiert und personenzentriert eingesetzt wird. Sie ist eine effektive Massnahme im frühen bis mittleren Stadium der Demenz.
Tiergestützte Therapien
Es wird zwischen tiergestützten Interventionen und Aktivitäten unterschieden. Empfohlen werden Tiere mit einer speziellen Ausbildung. Vor allem bei affektiven Erkrankungen und sozialer Isolation sind sie wirksam und fördern die Alltagsfähigkeiten. Soziale Interaktionen, Lebensqualität und Mobilität werden verbessert.
Akupunktur, Akupressur
Bei Betroffenen mit Demenz können diese Verfahren Depression, Agitation, Angst, Schlafstörungen und Aktivitäten des täglichen Lebens verbessern. Wenige Nebenwirkungen wie Blutungen aus der Akupunkturstelle, Fatigue, Schläfrigkeit und Benommenheit sind bekannt.
Körperliche Aktivität und Sport
Inaktivität gehört zu modifizierbaren Risikofaktoren der Demenz und es sind deutliche Hinweise vorhanden, dass körperliche Aktivität bei BPSD positiv wirkt. Ausdauerübungen wie Joggen, Wandern, Gleichgewichtsübungen, Stärkung der Muskelkraft, Fahrradergometer und Kombination dieser Übungen können eingesetzt werden. Depression und Schlafstörungen profitieren am meisten. Tanzen kombiniert mit Musik kann als Aktivität angeboten werden.
Entwicklungsprozesse in Gesundheitsorganisationen
Um BPSD nachhaltig zu reduzieren ist eine partizipative und ganzheitliche Veränderung der Behandlungs-, Betreuungs- und Pflegekultur notwendig. Mit dem sogenannten PARIHS (The Integrated Promoting Action on Research Implementation in Health Services) Bezugsrahmen des «Royal College of Nursing» können die Organisationen im Gesundheitswesen gestärkt werden. Entwicklung von neuen Skills und Angeboten, effektivere Prozesse und Arbeitsplatzkultur, Empowerment des Personals, Rollenklarheit und gemeinsames Rollenverständnis sowie Entwicklung der Teamkapazität sind wichtige Faktoren.
Pharmakotherapie
Grundsätze der psychopharmakologischen Therapie
Falls nicht-pharmakologische Massnahmen nicht ausreichen, kann der Einsatz von Medikamenten eine Option sein, um eine Selbst- und Fremdgefährdung durch BPSD zu verhindern, und um die Diagnostik und Betreuung der Betroffenen zu gewährleisten. Hier sind evidenz-basierte Empfehlungen schwierig, weil kontrollierte Studien in dieser Altersgruppe selten durchgeführt werden. Deswegen ist die klinische Erfahrung mit diesen Substanzen sehr wichtig unter der Berücksichtigung der Tatsache, dass der Einsatz der meisten Medikamente «Off-Label» erfolgt [3].
Zwei Faktoren sind beim Einsatz von (Psycho)pharmaka zur BPSD-Therapie in dieser vulnerablen Patientengruppe zu berücksichtigen: erstens ist der Einsatz erschwert durch verschiedene physiologische und metabolische Veränderungen wie z.B. renale Funktionseinschränkung, Reduktion der gastrointestinalen Motilität, Abnahme der Leberperfusion, der Resorption im Darmtrakt und der Plasmaträgerproteine sowie erhöhte Sensitivität gegenüber Psychopharmaka. Zweitens ist der Einsatz dieser Substanzen mit erhöhtem Risiko für Mortalität, zerebrovaskuläre Ereignisse und Stürze verbunden. Zusätzlich sind kardiale und metabolische Nebenwirkungen sowie Blutbildveränderungen und Thrombosen zu beachten. Deswegen sind Grundsätze einzuhalten (Tabelle 1).
Die Anwendung von Psychopharmaka soll nach einer Nutzen-/Risiko-Abwägung zeitlich limitiert, indikationsgerecht, in möglichst niedriger Dosierung und unter Monitoring erfolgen. Zu Beginn soll eine ausführliche klinische Untersuchung durchgeführt werden mit Anamnese (inkl. Familien-, Fremd- und Medikamentenanamnese), Labordiagnostik und EKG. Die Standard-Diagnostik in der Alterspsychiatrie berücksichtigt Multimorbidität und hirnorganische Veränderungen (Tabelle 2). Sie kann um EEG, neuropsychologisches Assessment, Liquor und Bildgebung erweitert werden. Mögliche Nebenwirkungen und Medikamenteninteraktionen sind laufend zu überwachen. Im Verlauf sollen die klinische Untersuchung, Labordiagnostik und EKG regelmässig wiederholt werden. Wenn BPSD sich zurückentwickeln, sind Reduktions- und Absetzversuche vorzunehmen.
Antidementiva
Acetylcholinesterase-Hemmer (AChE) wie Donepezil, Rivastigmin und Galantamin werden bei leichter bis mittelschwerer Alzheimer-Demenz (AD) eingesetzt, während Memantin bei mittelschwerer bis schwerer AD indiziert ist. Neben ihren kognitionsstabilisierenden Effekten über einen begrenzten Zeitraum hinweg haben diese Substanzen positive Wirkungen auf BPSD. Donepezil ist am besten untersucht. Neuere Meta-Analysen zeigen eine moderate Wirkung für AChE vor allem bei Apathie, Depression und Irritabilität, während Memantin vor allem bei Agitation, Aggressivität, Wahn und Halluzinationen wirksam zu sein scheint. Sie sind besser verträglich als andere Psychopharmaka bei BPSD und für die AChE ist nachgewiesen worden, dass sie das Mortalitätsrisiko reduzieren. Sie helfen den Einsatz von anderen Psychopharmaka zu reduzieren. Aufgrund ihres positiven Nutzen-/Risiko-Profils und der guten Verträglichkeit werden diese Substanzen als Medikament der ersten Wahl bei BPSD empfohlen.
Der standardisierte Ginkgo Biloba-Extrakt zählt zu den Substanzen mit kognitiven und neuroprotektiven Effekten. Über Neurotransmitter-Veränderungen sind auch Wirkungen auf Symptome wie Angst, Depression, Irritabilität, Unruhe, Schlafstörungen, Wahn und Halluzinationen nachgewiesen. Eine gute Therapieadhärenz ist notwendig, um eine gute Wirksamkeit zu erzielen.
Antidepressiva
Die Hälfte der Betroffenen mit einer Demenz-Erkrankung zeigt depressive Symptome. Die Früherkennung und eine effektive Therapie können helfen, Kognition und Alltagsfähigkeiten zu verbessern. Die beste klinische Evidenz bei Menschen mit Demenz besteht für die Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Inhibitoren (SSRI) Citalopram/Escitalopram. Diese sind Antidepressiva der ersten Wahl und sind auch bei Agitiertheit wirksam. Allerdings besteht eine Blackbox-Warnung wegen der Verlängerung des QTc-Intervalls. Deswegen sind regelmässige EKG-Kontrollen notwendig.
Trizyklische Antidepressiva werden aufgrund ihres anticholinergen Nebenwirkungspotentials bei älteren Personen nicht empfohlen. Fluoxetin wird wegen des hohen Interaktionspotentials mit anderen Medikamenten ebenfalls nicht empfohlen. Für Agomelatin und Trazodon kann keine Empfehlung für Depression, aber für Schlafstörungen ausgesprochen werden. Für Mirtazapin aktuell keine Empfehlung. Dagegen kann Moclobemid in Erwägung gezogen werden.
Nach dem Einsetzen des Antidepressivums sollen regelmässig klinische Evaluation mit Überprüfung der Nebenwirkungen stattfinden. Bei fehlender Wirksamkeit nach 4-6 Wochen Therapiedauer kann die Medikation ersetzt werden.
Antipsychotika
Wenn andere alternative Therapien nicht ausreichen, kann bei den Zielsymptomen Wahn, Halluzinationen, Agitiertheit und Aggressivität eine Intervention mit Antipsychotika erwogen werden [3]. Der Einsatz dieser Substanzen ist mit erhöhten Mortalitätsraten und Nebenwirkungen wie extrapyramidal-motorische Symptomen (EPS), Sedierung, kardialen Symptomen, orthostatischer Dysregulation, metabolischen Veränderungen, kognitivem Abbau sowie erhöhtem Risiko für zerebrovaskuläre Ereignisse verbunden. Deswegen sollen sie zeitlich limitiert und in möglichst niedriger Dosierung eingesetzt werden. Vor der Therapie sollen eine ausführliche klinische Anamnese, EKG und Laborkontrolle durchgeführt, Interaktionen und Nebenwirkungen überwacht und alle vier Wochen eine Indikationsüberprüfung durchgeführt werden.
Atypische Antipsychotika werden aufgrund ihres besseren Nutzen-/Risiko-Profils bevorzugt eingesetzt. Auch aufgrund von oft auftretenden EPS sowie den anticholinergen Nebenwirkungen werden typische Antipsychotika bei Betroffenen mit Demenz nicht empfohlen. Eine Ausnahme ist Haloperidol bei Übergängen zum Delir sowie bei persistierender Aggression und psychotischen Symptomen.
Von den atypischen Antipsychotika ist Risperidon (0.5-2mg/d) die einzige Substanz, die bei BPSD in der Schweiz zugelassen ist. Der Einsatz der anderen typischen Anti-psychotika ist Off-Label. Wenn Risperidon aufgrund von Nebenwirkungen (vor allem EPS) nicht eingesetzt werden kann, sind Aripiprazol, Quetiapin, Olanzapin und neuerdings auch Brexpiprazol eine Alternative. Beim Einsatz dieser Substanzen sind die Kriterien Wirkspektrum (sedierend/hohe antipsychotische Potenz), geringe anticholinerge Wirkung, Nebenwirkungsprofil und Komorbiditäten zu beachten. Sie sollen möglichst als Monotherapie verabreicht werden. Wenn bei 4-wöchiger Indikationsprüfung ein Absetzen der Substanz geplant ist, soll die Reduktion nach Kommunikation mit dem/der Betroffenen und seinen/ihren Angehörigen schrittweise erfolgen. Der Verlauf soll alle 2-4 Wochen auf erneute BPSD hin beobachtet werden.
Benzodiazepine und analoge Hypnotika
Benzodiazepine und analoge Hypnotika können eine Reihe von Nebenwirkungen wie Sedierung, psychomotorische Störungen und Verlangsamung exekutiver Funktionen herbeiführen. Sie können Delir und Stürze verursachen, und bei längerer Einnahme eine Abhängigkeitserkrankung. Deswegen werden sie bei BPSD grundsätzlich nicht empfohlen [3]. Wenn in Notfallsituationen wie extreme Agitation, Aggressivität oder Suizidalität diese trotzdem eingesetzt werden müssen, sollen sie zeitlich limitiert (max.3-4 Wochen, weil dann die Toleranzentwicklung eintritt) und als Bedarfsmedikation eingesetzt werden, jedoch nicht als regelmässige Abgabe. Grundsätzlich sollen wegen Kumulationsgefahr nur Substanzen mit kürzerer Halbwertzeit (Lorazepam, Oxazepam) verwendet werden. Benzodiazepine sind bei Schlafstörungen nicht indiziert. Für Benzodiazepin-analoge Hypnotika besteht zwar die Indikation bei chronischen Schlafstörungen, aber bei Betroffenen mit Demenz gelten dieselben Einschränkungen wie bei Benzodiazepinen.
Hypnotisch wirksame Substanzen
Bei Insomnie können – insbesondere, wenn eine längerfristige Gabe notwendig erscheint – weitere Substanzen unter Berücksichtigung des gesamten psychopathologischen Bildes und des Nebenwirkungsprofils eingesetzt werden [3]. Schlaf-anstossende Antidepressiva wie Trazodon, Mirtazapin und Agomelatin sind vor allem bei Schlafstörungen und zudem bei bestehender Depression indiziert. Substanzen mit anticholinergen Nebenwirkungen sollen vermieden werden. Antipsychotika wie Quetiapin und Pipamperon werden oft wegen ihrer sedierenden Wirkung eingesetzt. Es gelten die Grundsätze der psychopharmakologischen Therapie und eine zeitliche Limitierung.
Für Melatonin-Agonisten, Pregabalin und Gabapentin sind Hinweise vorhanden, dass sie bei Schlafstörungen bei Demenz wirksam sind. Chloralhydrat, Chlomethiazol, Diphenhydramin, Doxylamin und Promethazin sollen bei Demenz nicht eingesetzt werden. Neue Substanzen wie Orexin-Rezeptor-Antagonisten sind noch in der Entwicklungsphase.
Antikonvulsiva und Phasenprophylaktika
Carbamazepin ist zwar bei Aggressivität gut wirksam, wird aber wegen Nebenwirkungen wie Ataxie, Schwindel, Hypotonie, Verwirrtheitszuständen, Sedierung und Lebertoxizität bei BPSD nicht als Therapie der ersten und zweiten Wahl empfohlen [3]. Der Einsatz erfolgt Off-Label, regelmässige Laborkontrollen sind notwendig. Gabapentin und Pregabalin sind vor allem bei komorbiden neuropathischen Schmerzen eine Alternative. Lamotrigin kann trotz fehlender Evidenz wegen der niedrigen Nebenwirkungsrate eingesetzt werden. Da es langsam aufdosiert werden muss, eignet es sich nicht als Akutmedikation. Topiramat kann kognitive Störungen verursachen. Für Levatiracetam kann aktuell keine Empfehlung abgegeben werden. Oxcarbazin, Valproat und Lithium werden wegen des schlechten Nebenwirkungsprofils nicht empfohlen. Bei Perampanel, Lacosamid und Brivaracetam ist die Datenlage für eine Empfehlung noch unklar.
Analgetika
Schmerzen können BPSD verursachen oder verstärken, vor allem Agitiertheit und Aggressivität [3]. Deswegen ist die Schmerzbehandlung Teil der BPSD-Therapie. Betroffene mit Demenz können aber Schmerzen oft nicht zum Ausdruck bringen. Deswegen soll das Assessment um Fremdbeurteilungsskalen wie z.B. PAINAD (Pain Assessment in Advanced Dementia Scale) erweitert werden.
Für die Behandlung von neuropathischen Schmerzen bei älteren Personen werden folgende Substanzen empfohlen: Duloxetin als Antidepressivum, Gabapentin, Pregabalin, Lidocain zur topischen Anwendung, und Tramadol und Oxycodon als Opioide. Wobei Opioide sehr zurückhaltend und zeitlich limitiert eingesetzt werden sollen, wegen der sedierenden und delirogenen Wirkungen und des Abhängigkeitspotentials. Im Alter vermieden werden sollen Substanzen wie Indometacin, Acemetacin, Ketoprofen, Proxicam, Meloxicam, Phenylbutazon, Etoricoxib und Pethidin. Es werden auch zunehmend Cannabinoide eingesetzt, die vor allem bei Agitiertheit wirksam sind.
Biologische Verfahren
Lichttherapie
Lichttherapie ist bei zirkadianen Rhythmus- und Schlaf-Störungen sowie bei «Sundowning Syndrom» mit abendlicher Agitiertheit wirksam [3]. Weisses Licht mit gesamtem Spektrum bis zu einer Untergrenze von 400nm wird angewendet. Die Anwendung erfolgt bei 2‘500 Lux für zwei Stunden oder 10‘000 Lux für 30 Minuten. Als Raumbeleuchtung reichen 1‘000 Lux aus.
Schlafentzug/Wachtherapie
Der Schlafentzug (gesamte Nacht, erste oder zweite Nachthälfte) wird bei der Depression erfolgreich eingesetzt. Hirnorganische Störungen stellen aber eine relative Kontraindikation dar, weil der Schlafentzug zu einer allgemeinen Zustandsverschlechterung und Verwirrtheit führen kann. Deswegen wird dieses Verfahren nicht empfohlen.
Elektrokrampftherapie (EKT)
Obwohl kontrollierte Studien fehlen, wird EKT bei therapierefraktärer BPSD, vor allem bei Agitiertheit und Aggressivität, als wirksames Verfahren eingesetzt. Dabei wird Kognition bei vorbestehender Demenz nicht dauerhaft verschlechtert. Die wichtigsten Nebenwirkungen waren Konfusion und reversible kognitive Störungen. EKT kann eine Option sein, wenn Medikamente nicht einsetzbar sind. Die Einwilligung durch den Betroffenen nach erfolgter Aufklärung (informed consent) ist meistens jedoch nicht möglich, weswegen die Behandlung mit den Angehörigen oder Betreuern zu besprechen ist, was sehr hohe Anforderungen an den Umfang der Informationspflicht stellt.
Repetitive Transkraniale Magnetstimulation (rTMS)
rTMS hat neuromodulierende und neuronale Plastizität fördernde Eigenschaften. Vor allem Betroffene mit Demenz und Depression profitieren von der Therapie. Kopfschmerzen, Benommenheit, Hörschäden und selten epileptische Anfälle sind mögliche Nebenwirkungen. Bei Personen mit ferromagnetischem Material wie z.B. Cochlea-Implantate und Herzschrittmacher sowie mit Hörproblemen und Epilepsie in der Vorgeschichte besteht eine Kontraindikation. Bei anderen interventionellen Verfahren wie Tiefe Hirnstimulation oder Vagusnervstimulation ist die Datenlage für eine Empfehlung noch unzureichend.
BPSD und Kommunikation
Eine effektive Kommunikation kann helfen, das Wohlbefinden der Betroffenen zu verbessern, ihren Stress und Angst abzubauen [3]. Sie kann auch dazu beitragen, das Stressniveau bei den Pflege- und Betreuungspersonen zu reduzieren. Grundsätzlich soll eine offene, interessierte und wertschätzende Kommunikation erfolgen. Bei eingeschränkter Sprachfähigkeit gewinnt die nonverbale Kommunikation mit Elementen wie Gesichtsausdruck, Stimmklang, Gestik, Berührung und Körperhaltung an Bedeutung. Das Tempo soll dem Betroffenen angepasst und auf die Schlüsselwörter fokussiert werden. Bei abnehmender Fähigkeit des Verstehens sollen mehr sprachbegleitende Gesten verwendet, die wichtigsten Wörter betont, Aussprache rhythmisch gestaltet und Informationen wiederholt werden.
Mit der Realitätsorientierungstherapie, der Reminiszenztherapie und der Validation stehen validierte Verfahren zur Verfügung, um die Orientierung, die Erinnerung zu verbessern, resp. um die subjektive Wirklichkeit der Betroffenen zu würdigen und zu akzeptieren. Ein wichtiger Faktor ist auch das Kommunikationstraining für die Pflege- und Betreuungspersonen: theoretische Kenntnisse über die spezifischen Herausforderungen und Kommunikationstechniken sowie praktische Übungen und Simulationen sind hilfreich. In den letzten Jahren werden zudem telemedizinische Verfahren vermehrt untersucht. Trotz technischer und regulatorischer Schwierigkeiten haben sich Video-Konferenzen bei patientenzentrierten Interventionen und telefonbasierte Interventionen bei Pflege- und Betreuungspersonen als effektiv erwiesen. Diese Verfahren reduzieren BPSD und steigern das Wohlbehalten bei hoher Akzeptanz.
Klinik für Alterspsychiatrie
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Minervastrasse 145
8032 Zürich
egemen.savaskan@puk.zh.ch
Es bestehen keine Interessenskonflikte.
Historie
Manuskript eingereicht: 04.01.2024
Manuskript angenommen: 05.02.2024
- BPSD wie z.B. Depression, Apathie, Agitation/Aggressivität, Wahn und Halluzinationen sind belastend für Betroffene, Angehörige und das involvierte Fachpersonal. Für deren Behandlung werden primär nicht-pharmakologische/psychosoziale Massnahmen verfolgt. Der Einsatz von Psychopharmaka kann situativ notwendig sein, was in dieser multimorbiden Patientengruppe mit Nebenwirkungen und Interaktionen verbunden sein kann.
- Auf Evidenz und klinische Erfahrung basierende Empfehlungen, die einen interprofessionellen und interdisziplinären Ansatz befolgen, sollen die aktuellen Möglichkeiten der Diagnostik und Therapie aufzeigen.
- Die nicht-pharmakologischen Therapieoptionen stehen im Vordergrund und sollen auch dann angeboten werden, wenn Psychopharmaka zum Einsatz kommen.
- Beim Einsatz von Psychopharmaka muss der aktuelle medizinische Standard eingehalten werden. Es soll regelmässig eine Indikationsprüfung durchgeführt und auf zeitliche Limitierung geachtet werden. Falls der Einsatz dieser Substanzen Off-Label erfolgt, muss sich die Behandlung nach den «Guidelines» der Fachgesellschaften richten.
1. Savaskan E, Bopp-Kistler I, Buerge M et al. Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie der behavioralen und psychologischen Symptome der Demenz (BPSD). Praxis. 2014; 103(3): 135–148.
2. Savaskan E, Bopp-Kistler I, Buerge M et al. Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie der behavioralen und psychologischen Symptome der Demenz (BPSD) – lange Version. https://www.sgap-sppa.ch/fileadmin/user_upload/Empfehlungen_zur_Diagnostik_und_Therapie_der_BPSD_-_November_2014.pdf
3. Savaskan E, Georgescu D, Zuniga F (Hrsg.). Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie der Behavioralen und Psychischen Symptome der Demenz (BPSD). Bern; Hogrefe: 2024.
PRAXIS
- Vol. 113
- Ausgabe 2
- Februar 2024