- Intensivierung und Personalisierung der neoadjuvanten Therapie des lokal fortgeschrittenen Rektumkarzinoms
In der Behandlung lokal fortgeschrittener Karzinome des mittleren und unteren Rektumdrittels stellte die neoadjuvante Langzeit-Radiochemotherapie (RCT) mit Capecitabin oder alternativ die Kurzzeit-Strahlentherapie (RT), jeweils gefolgt von einer totalen mesorektalen Exzision (TME) und einer anschliessenden adjuvanten Chemotherapie (CT) über viele Jahre hinweg den Goldstandard dar (2). Zahlreiche Studien versuchten seither dieses Therapieprotokoll, u.a. durch die Hinzunahme von Oxaliplatin während der Radiotherapie, weiterzuentwickeln, ohne dass sich hierdurch eine Verbesserung «harter» Endpunkte wie des progressionsfreien Überlebens erzielen liess (3). Erst die Etablierung der totalen neoadjuvanten Therapie (TNT), wie sie im Übersichtsartikel von Steinemann und Nocera detailliert beschrieben und kritisch diskutiert wird, definiert neue Therapiemassstäbe. Durch die Etablierung von TNT-Protokollen in wichtigen Studien einschliesslich RAPIDO, OPRA und PRODIGE-23 konnten höhere pathologische Komplettremissionsraten (pCR) und eine Verbesserung des metastasenfreien Überlebens sowie des progressionsfreien Überlebens erreicht werden (3, 4, 5).
Welches TNT-Protokoll eignet sich für den Alltag?
Die bisher publizierten TNT-Protokolle unterscheiden sich erheblich bezüglich verwendeter Chemo- und Radiotherapie-Protokolle sowie Therapiesequenz (6). Welchem der zur Auswahl stehenden TNT-Protokolle ist nun der Vorzug zu geben, was sind die Vor- und Nachteile? Hier ist die Diskussion noch offen. Viele Fachgesellschaften empfehlen derzeit eine Radiochemotheapie-Chemotherapie-Sequenz, da sich hiermit die wahrscheinlich höchsten pCR-Raten erzielen lassen. Es bleibt abzuwarten, welche Protokolle sich langfristig durchsetzen werden und wie zukünftige Studienergebnisse die Behandlungslandschaft prägen werden.
Wie vorgehen bei klinischer Komplettremission?
Die Behandlung des Rektumkarzinoms gehört mehr denn je in die Hände erfahrener Zentren. Durch die höheren kompletten Remissionsraten nach TNT ist der Schritt zur Operation nämlich längst kein Automatismus mehr. Auch wünschen sich Patientinnen und Patienten häufig ein organerhaltendes Vorgehen. Das Remissions-Assessment nach TNT ist anspruchsvoll und die Patientenführung in diesem Spannungsfeld mitunter eine Herausforderung. Welchen Patientinnen und Patienten wir bereits heute ohne Kompromittieren des kurativen Behandlungsziels ausserhalb von Studien Organerhalt anbieten können, ist Gegenstand intensiver Debatten. Eine offene und detaillierte Aufklärung unserer Patientinnen und Patienten stellt die essenzielle Grundlage der gemeinsamen Entscheidungsfindung dar.
Neoadjuvante Präzisionsmedizin?
Werden alle fortgeschrittenen Rektumkarzinome mit TNT richtig behandelt, und welche Rolle spielt die Tumorgenetik? Furore machten im Frühsommer neue Studiendaten des Memorial Sloan Kettering Cancer Centers. Hier wurden Patientinnen und Patienten mit Mismatch-Repair-defizienten (dMMR/MSI-H) Rektumkarzinomen neoadjuvant mit Dostarlimab, einem Anti-PD-1-Antikörper, behandelt (7). Alle 14 bisher berichteten Behandelten erzielten innerhalb von Wochen eine komplette Remission (cCR). Keine einzige Person wurde bestrahlt, chemotherapiert oder operiert. Selbst grosse, lokal weit fortgeschrittene Tumoren verschwanden bei gleichzeitig exzellenter Therapieverträglichkeit. Auch wenn Langzeitdaten bisher fehlen, zeichnet sich hier ein neuer personalisierter Therapiestandard für die 5–10 % aller Rektumkarzinome ab, die Mismatch-Repair-Defizienz zeigen (8, 9). Zusammenfassend entwickelt sich die neoadjuvante Therapie des lokal fortgeschrittenen Rektumkarzinoms derzeit rasant weiter, und wir dürfen gespannt sein auf die Zukunft.
Klinik für Medizinische Onkologie und Hämatologie
Universität und Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich
Klinik für Medizinische Onkologie und Hämatologie
Universitätsspital Zürich
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1. Steinemann DC, Müller-Stich BP, Angehrn F, Nocera F. Neue und etablierte multimodale Therapiestrategien beim fortgeschrittenen Rektumkarzinom. Praxis (Bern 1994). 2023;112(11):539–544.
2. Fokas E, Appelt A, Glynne-Jones R, et al. International consensus recommendations on key outcome measures for organ preservation after (chemo)radiotherapy in patients with rectal cancer. Nat Rev Clin Oncol. 2021;18(12):805–816.
3. Garcia-Aguilar J, Patil S, Gollub MJ, et al. Organ Preservation in Patients With Rectal Adenocarcinoma Treated With Total Neoadjuvant Therapy. J Clin Oncol. 2022;40(23):2546–2556.
4. Conroy T, Bosset JF, Etienne PL, et al. Neoadjuvant chemotherapy with FOLFIRINOX and preoperative chemoradiotherapy for patients with locally advanced rectal cancer (UNICANCER-PRODIGE 23): a multicentre, randomised, open-label, phase 3 trial. Lancet Oncol. 2021;22(5):702–715.
5. Germer CT, Reibetanz J. Ergebnisse der randomisierten RAPIDO-Studie zur total-neoadjuvanten Therapie des Rektumkarzinoms. Chirurg. 2021;92(7):666.
6. Liu S, Jiang T, Xiao L, et al. Total Neoadjuvant Therapy versus Standard Neoadjuvant Chemoradiotherapy for Locally Advanced Rectal Cancer: A Systematic Review and Meta-Analysis. Oncologist. 2021;26(9):e1555–e1566.
7. Cercek A, dos Santos Fernandes G, Roxburgh CS, et al. Mismatch Repair-Deficient Rectal Cancer and Resistance to Neoadjuvant Chemotherapy. Clin Cancer Res. 2020;26(13):3271–3279.
8. Cercek A, Lumish M, Sinopoli J, et al. PD-1 Blockade in Mismatch Repair–Deficient, Locally Advanced Rectal Cancer. N Engl J Med. 2022;386(25):2363–2376.
9. Pecina-Šlaus N, Kafka A, Salamon I, Bukovac A. Mismatch Repair Pathway, Genome Stability and Cancer. Front Mol Biosci. 2020;7.
PRAXIS
- Vol. 112
- Ausgabe 11
- September 2023