Kein Stadt-Land Gefälle bei Hodenkrebs im Kanton Bern

Hodenkrebs stellt eine in hohem Masse heilbare Erkrankung bei Männern dar. Ältere Berichte weisen auf ein Stadt-Land Gefälle mit weiter fortgeschrittenen Erkrankungen und schlechteren Behandlungsergebnissen in ländlichen Gebieten hin. In einer Patientenkohorte von 296 Männern mit Hodenkrebs des Inselspitals Bern fanden wir im Zeitraum 2010-2020 keine klinisch relevanten Unterschiede in Präsentation, Therapie und Behandlungsergebnis abhängig von der Wohnregion der Patienten.



Einführung

Hodenkrebs kann seit der Einführung Cisplatin-basierter Chemotherapien selbst in den weit metastasierten Tumorstadien geheilt werden. [1] Das häufigste Frühsymptom ist eine tastbare Verhärtung oder eine Vergrösserung des Hodens, die schmerzhaft oder schmerzlos sein kann und von den meisten Betroffenen selbst bemerkt wird. Verwechslungen mit einer Epidydimitis sind häufig. Sofern die Diagnose frühzeitig gestellt wird, kann bei einer auf den Hoden beschränkte Erkrankung die alleinige Entfernung des befallenen Hodens ausreichend sein. Metastasierte Patienten und Patienten mit primär extragonadalen Tumoren benötigen in der Regel eine Chemotherapie mit drei bis vier Zyklen Cisplatin-basierter Chemotherapie. Weniger häufig wird in der Schweiz eine Bestrahlung oder eine primäre Resektion von abdominellen Lymphknotenmetastasen eingesetzt. [2]
Allerdings berichteten Hölzel et al 1991 in einer viel beachteten Veröffentlichung von einem erheblichen Stadt-Land Gefälle mit schlechteren Behandlungsergebnissen in ländlichen Regionen in Deutschland selbst 10 Jahre nach Zulassung von Cisplatin. [3] Wir stellten uns die Frage, ob ein solches Stadt-Land Gefälle in der Schweiz heute noch existiert. Zu diesem Zweck untersuchten wir eine Kohorte konsekutiver Patienten, die in den Jahren 2010 bis 2020 am Inselspital Bern diagnostiziert und behandelt wurden, hinsichtlich Tumorgrösse und Stadium bei Primärpräsentation sowie Behandlungserfolg abhängig von der Wohnregion der Patienten.

 

Material und Methoden

Patienten wurden anhand von Operationsberichten, Anmeldungen bei Tumorkonferenzen und Verordnungen von Chemotherapien identifiziert. Die Behandlungen, der Behandlungserfolg und die Nachsorge wurde mittels Arztberichten nachvollzogen. Wo nötig wurden nachsorgende Praxen und Spitäler angeschrieben und zusätzliche Nachsorgeinformationen eingeholt. Die Stadieneinteilung erfolgte nach der Klassifikation der Union for International Cancer Control (UICC). Die prognostische Einteilung metastasierter Patienten erfolgte zusätzlich nach der Klassifikation der International Germ Cell Cancer Cooperative Group (IGCCCG). [4] Die Zuordnung der Patienten zu einer städtischen, intermediären oder ländlichen Wohnregion erfolgte über die Stadt/Land-Typologie 2012 des Bundesamtes für Statistik. [5] Die Darstellung der Überlebenswahrscheinlichkeiten erfolgte nach der Methode von Kaplan und Meier. Hierzu wurde das Programm STATA (StatCorp, College Station, Texas, USA, Version 16.1) eingesetzt. Das progressionsfreie Überleben wurde definiert als der Zeitraum zwischen der Erstdiagnose und dem Zeitpunkt des Auftretens eines Progresses oder dem Tod des Patienten, je nachdem welches Ereignis früher auftrat, das Gesamtüberleben als der Zeitraum von der Erstdiagnose bis zum Tod jedweder Ursache bzw. der letzten bekannten Nachbeobachtung. Patienten bei denen die Nachsorge nicht weiter eruiert werden konnte, wurden zum Zeitpunkt des letzten Patientenkontaktes zensiert. Der letzte Erfassungszeitpunkt für alle Patienten war der 31.12.2022.

Ergebnisse

Patientenkollektiv

Die Patientenkohorte umfasste insgesamt 296 Patienten. Details zu den Patientencharakteristika findet sich in Tabelle 1. Etwa die Hälfte der Patienten befanden sich in einem klinischen Stadium I mit auf den Hoden beschränkter Erkrankung. Die übrigen Patienten waren zum Diagnosezeitpunkt bereits metastasiert allerdings zumeist in einer günstigen Prognosegruppe nach der IGCCCG Klassifikation.

Durchgeführte Therapien

Gemäss internationalen Empfehlungen bestand die häufigste Behandlungsstrategie für Patienten im Stadium I in einer aktiven Überwachung, d.h. mit alleiniger regelmässiger Nachbeobachtung nach erfolgter Orchiektomie (Tabelle 2). Somit konnten 86/153 (56%) Patienten im Stadium I eine weitere Therapie nach Orchiektomie erspart werden. Insgesamt 37/153 (24%) Patienten rezidivierten aus einem Stadium I und wurden wie primär metastasierte Patienten behandelt. Primär metastasierte oder Patienten mit Rezidiv aus einem initialem Stadium I erhielten mehrheitlich eine Chemotherapie Cisplatin, Etoposid und Bleomycin.

Behandlungserfolg

Patienten wurden im Median 49 Monate nachbeobachtet (Interquartile Range 25-85 Monate). Zum Zeitpunkt der letzten Nachbeobachtung waren 272/296 (92%) Patienten krankheitsfrei und 21/296 (7%) Patienten waren verstorben, bei 3/296 (1%) war die Nachsorge abgebrochen. Die Todesursache war bei 12 Patienten die Tumorerkrankung, bei 4 Patienten verblieb die Todesursache unklar, 5 starben an anderen Ursachen. Die progressionsfreie Überlebenswahrscheinlichkeit nach 3 und 5 Jahren betrug für die gesamte Kohorte 76% bzw. 73%, die Gesamtüberlebenswahrscheinlichkeit nach 3 und 5 Jahren betrug 93% (Abbildung 1).

Vergleich der Regionen

Die Primärpräsentation abhängig vom Wohnort der Patienten ist in Tabelle 3 dargestellt. Somit wurden Patienten in ländlichen Regionen nicht mit weiter fortgeschrittenen Tumoren diagnostiziert als in städtischen Regionen. Die progressions-freie Überlebenswahrscheinlichkeit und die gesamte Überlebenswahrscheinlichkeit unterschieden sich ebenfalls nicht (Abbildungen 1 und 2).

Diskussion

Seit der Einführung von Cisplatin in die Behandlung vor ca. 40 Jahren wird die Mehrzahl der Männer mit Hodenkrebs geheilt. Seither haben sich die Behandlungsergebnisse kontinuierlich weiter verbessert. [6] Heutzutage können über alle Stadien hinweg mehr als 90% der Betroffenen mit einer Heilung ihrer Krebserkrankung rechnen. Allerdings weisen ältere Berichte darauf hin, dass Männer aus ländlichen Regionen mit weiter fortgeschrittenen Tumoren bzw. in höheren Tumorstadien diagnostiziert werden und insgesamt schlechtere Behandlungsergebnisse erfahren als Männer aus städtischen Regionen.

In einer Kohorte konsekutiver Patienten mit Hodenkrebs, die in den Jahren 2010-2020 am Inselspital in Bern diagnostiziert und behandelt wurden, fanden wir keine klinisch relevanten Unterschiede abhängig von der Wohnregion der Betroffenen. Dies kann im Gegensatz zu früheren Jahren einer besseren Körperwahrnehmung und an einem besseren Gesundheitsbewusstsein von Männern liegen, an einem verbesserten Wissen über Hodenkrebs unter Ärztinnen und Ärzten in ländlichen Regionen oder an einer schnelleren Überweisungspraxis an ein Hodenkrebszentrum wie das Inselspital Bern. Wesentliche Einschränkungen der Analyse sind ein Selektionsbias, da nur Patienten des Inselspitals Bern untersucht wurden und der retrospektive Studienansatz. Zudem ist die Zahl der Patienten aus intermedären und ländlichen Gebieten im Vergleich zum städtischen Einzugsgebiet deutlich geringer. Vor allem aber ist unklar, ob die Ergebnisse aus dem Kanton Bern auf andere Regionen der Schweiz oder an in der Behandlung von Hodenkrebs weniger erfahrene Krebszentren übertragbar sind. Diese Frage wird in weiteren Analysen untersucht werden.

Im Artikel verwendete Abkürzungen
AFP Alpha-Fetoprotein
HCG Humanes Choriongonadropin
IGCCCG International Germ Cell Cancer Cooperative Group
UICC Union for International Cancer Control

Prof. Dr. med. Jörg Beyer

Universitätsklinik für Medizinische Onkologie
Inselspital, Universitätsspital Bern, Universität Bern
Freiburgstrasse 41
3010 Bern

Es bestehen keine Interessenskonflikte.

  • Historie
    Manuskript eingereicht: 06.06.2023
    Nach Revision angenommen: 05.09.2023

 

  • Männer mit Hodenkrebs können mehrheitlich geheilt werden
  • Es gibt im Kanton Bern keine klinisch relevanten Unterschiede bei Diagnose und Behandlungserfolg unter Männern aus städtischen oder ländlichen Regionen

1. Honecker F, Aparicio J, Berney D, et al. ESMO Consensus Conference on testicular germ cell cancer: diagnosis, treatment and follow-up. Ann Oncol 2018;29:1658-1768.
2. Beyer J, Berthold D, Bode PK, et al. Swiss germ-cell cancer consensus recommendations. Swiss Med Wkly. 2021;151:w30023.
3. Hölzel D, Altwein JE. Hodentumoren. Ist der Rückgang der Mortalität in der Bundesrepublik Deutschland zu langsam erfolgt? Dtsch Ärztebl 1991;88:A-4123-4130.
4. The International Germ Cell Cancer Collaborative Group. International germ cell consensus classification: A prognostic factor-based staging system for metastatic germ cell cancers. J Clin Oncol 1997; 15: 594–603.
5. Bundesamt für Statistik, Räumliche Verteilung. Available at: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/stand-entwicklung/raeumliche-verteilung.html (Letzer Zugriff: 26.11.2022).
6. Fankhauser CD, Sander S, Roth L, et al Improved survival in metastatic GCC. Ann Oncol 2018; 29: 347-351.