- Kleine Zecke – Grosse Gefahr
Wir berichten über einen 23-jährigen Patienten, der sich aufgrund persistierender Kopfschmerzen sowie Fieber und Erbrechen in der Hausarztpraxis vorstellte. Im weiteren Verlauf kamen eine rechtsbetonte Tetraparese, eine Dysphagie sowie eine Dysarthrie hinzu und es kam zu einem generalisierten tonisch-klonischen Krampfanfall. Weitere Abklärungen bestätigten eine FSME-Enzephalomyelitis und Polyradikulitis. Auch nach zweimonatiger Rehabilitation blieben beim ungeimpften Patienten sowohl neuropsychologische wie auch fokal-neurologische Residuen bestehen.
Anamnese und Befunde
Der 23-jährige, bisher gesunde Patient, meldete sich im Spätsommer erstmals in der Hausarztpraxis wegen starken, bitemporalen Kopfschmerzen mit Lichtempfindlichkeit, welche seit einer Woche bestanden. Bei Verdacht auf migräneartige Kopfschmerzen erfolgte eine symptomatische Therapie mit einem Salicylat (ASPÉGIC forte® 1000 mg) in Kombination mit Paracetamol (Dafalgan® 1g). Darunter kam es lediglich zu einer leichten Regredienz der Beschwerden, weshalb nach drei Tagen eine Wiedervorstellung in der hausärztlichen Praxis erfolgte. Der Patient klagte nun über persistierende, neu auch occipitale Kopfschmerzen (NRS 8/10) sowie über Übelkeit mit rezidivierendem Erbrechen – gemäss Angaben des Patienten ohne Fieber. Ebenfalls gab der Patient auf Nachfrage an, gegen Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) geimpft zu sein und keinen Zeckenstich bemerkt zu haben.
Bei der klinischen Untersuchung zeigte sich ein febriler (38.8°C) Patient in deutlich reduziertem Allgemeinzustand und erhöhter Atemfrequenz, bewusstseinsklar und allseits orientiert. Klinisch fand sich kein eindeutiger Fokus für einen Infekt, insbesondere war die Abdomenuntersuchung unauffällig und epigastrisch war lediglich eine diffuse Druckdolenz eruierbar. Neurologisch zeigte sich ein fraglicher, höchstens endständiger Meningismus bei unauffälligem Hirnnerven-Status sowie normaler Sensorik und Motorik in allen vier Extremitäten.
Im Labor (Tabelle 1) waren eine Leukozytose (12.85 G/l) sowie Granulozytose (9.75 G/l) zu sehen, bei normwertigem C-reaktivem Protein (CRP). Das restliche Blutbild war unauffällig (Abbildung 1).
Differentialdiagnosen
Die Symptome lassen primär an eine Meningitis respektive Enzephalitis denken, wobei ein Spannungskopfschmerz bei zusätzlicher Infektion im Magen-Darm-Bereich als Ursache der Beschwerden nicht auszuschliessen ist. Weiter könnte man an eine (septische) Sinusvenenthrombose denken (Tabelle 2).
Weitere Abklärungsschritte und Verlauf
Aufgrund des sichtlich reduzierten Allgemeinzustandes des Patienten mit Kopfschmerzen sowie Erbrechen ohne eindeutigen Fokus und Bestehen eines möglichen Meningismus’ erfolgte die notfallmässige Zuweisung auf die Notfallstation eines Zentrumsspitals zur weiteren Diagnostik und Therapie. Durch die Angehörigen wurde dort ergänzend eine vermehrte Vergesslichkeit des Patienten in letzter Zeit beschrieben. Wie sich herausstellte, war der Patient nicht gegen FSME geimpft. In der neuerlichen neurologischen Beurteilung fielen sodann zusätzlich ein Absinken des rechten Armes (ohne Pronation) im Vorhalteversuch sowie symmetrisch schwache Muskeleigenreflexe auf.
Sowohl eine Computertomografie (CT) des Neurocraniums als auch die ergänzende CT-Angiographie waren ohne pathologische Befunde. Nach wiederholt frustraner Lumbalpunktion erfolgte bei dringendem Verdacht auf eine infektiöse ZNS-Erkrankung eine empirische Therapie mit Ceftriaxon, Dexamethason sowie Aciclovir. MR-tomografisch zeigte sich sodann ein diskret vermehrtes Enhancement zerebellär beidseits, passend zu einer Leptomeningitis (Abbildung 2).
In der im Verlauf erfolgreich durchgeführten Liquoranalyse (Tabelle 2) war eine Pleozytose mit erhöhtem Proteinanteil sichtbar, bei einer leicht- bis mittelschweren Störung der Bluthirnschranke. Zweizeitig bestimmte FSME-Serologien (sowohl IgM- als auch IgG-Antikörper) fielen jeweils positiv aus (mit deutlichem Titeranstieg (Ausgangswert IgG-Antikörper: 159 U/ml; im Verlauf 1756 U/ml)), während der HSV-Typ 1/2- sowie VZV-PCR negativ ausfiel (Tabelle 3). Die empirische Therapie mit Rocephin, Aciclovir sowie Dexamethason wurde folglich gestoppt.
Bereits zu Beginn erfolgte eine Verlegung des Patienten auf die Intensiv- und Pflegestation wo der Patient im Verlauf eine zunehmende rechts- und proximalbetonte Tetraparese (Armabduktion rechts M2, Hüftbeuger M3, sonst M4-5) entwickelte, was bei erhaltenen bis lebhalten Reflexen im Rahmen einer Enzephalomyelitis interpretiert wurde. Der Allgemeinzustand des Patienten verschlechterte sich sodann erneut, wobei es im Verlauf passend zu einer Enzephalopathie zu einer Vigilanzminderung mit Benommenheit und zu einer Dysarthrie sowie Dysphagie kam, weshalb eine Intubation sowie später eine Tracheotomie erforderlich wurden. Erschwerend kam ein Harnwegsinfekt dazu, welcher den erneuten Einsatz von Antibiotika (Piperacillin/Tazobactam) während einer Woche erforderlich machte. Nach Auftreten eines generalisierten tonisch-klonischen Anfalls zeigte eine durchgeführte Bildgebung mittels CT des Neurocraniums keine neuen Aspekte. Ein ergänzende Magnetresonanztomografie (MRT) long spine zeigte den Befund einer spinalen Leptomeningitis sowie einer Polyradiukulitis (Abbildung 3 und 4). Ebenfalls bestand eine motorische Unruhe im Sinne einer Akathisie. Es erfolgte eine weiterführende symptomatische sowie supportive Therapie, worunter es zu einer Besserung der Beschwerden kam. Nach 4 Wochen, während denen der Patient 18 Tage IPS-pflichtig war, konnte dieser in stabilem Allgemeinzustand in die Rehabilitation entlassen werden. Während den 8 Wochen der stationären Rehabilitation wurde die initial noch bestehende Dysphagie mittels Logopädie deutlich verbessert. Obwohl ein selbständiges Gehen ohne Hilfsmittel nach Absolvierung der Rehabilitation wieder möglich war, persistierten eine verminderte Schritthöhe sowie fehlende Schutzschritte. Motorisch bestand zudem weiter eine starke Einschränkung der Abduktion des rechten Armes – ein Aufstehen vom Boden ohne Hilfsmittel war zudem weiterhin nicht möglich.
Im Artikel verwendete Abkürzungen
BWS Brustwirbelsäule
CRP C-reaktives Protein
CT Computertomografie
fs Fettsättigung
FSME Frühsommer-Meningoenzephalitis
hs-CRP high-sensitive CRP
HSV Herpes simplex Virus
HWI Harnwegsinfekt
HWS Halswirbelsäule
IPS Intensiv- und Pflegestation
KM Kontrastmittel
KSSG Kantonsspital St. Gallen
li links
LWS Lendenwirbelsäule
MRT Magnetresonanztomographie
n/a nicht anwendbar
NRS Numerische Ratingskala
PCR Polymerase chain reaction
re rechts
TBE Tick-borne encephalitis
VZV Varizella Zoster Virus
Facharzt FMH für Allgemeinmedizin
Medbase St. Gallen Am Vadianplatz
Vadianstrasse 26
9001 St. Gallen
Switzerland
beat.knechtle@hispeed.ch
Historie
Manuskript akzeptiert: 27.09.2023
Interessenskonflikte
Es bestehen keine Interessenskonflikte.
Danksagung
Wir danken dem Kantonsspital St. Gallen (KSSG) für das zur Verfügung stellen der MRT- sowie CT-Bilder.
- Infektionen mit dem FSME-Virus können auch bei jungen und gesunden Menschen zu schweren Verläufen mit Enzephalomyelitis und Polyradikulitis führen.
- Die dreifache Impfung gegen FSME bietet einen umfassenden Schutz von schätzungsweise 90-99%.
- Bei Fieber ohne Fokus mit Kopfschmerzen sollte auch bei unspektakulären Labor-Werten und nicht erinnerlichem Zeckenstich an eine ZNS-Infektion gedacht werden.
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PRAXIS
- Vol. 112
- Ausgabe 12
- Oktober 2023