- Warum die Schweiz evidenzbasierte Leitlinien für ihre Hausarztmedizin braucht
Medizinische Guidelines fassen evidenzbasierte Aussagen und Empfehlungen zusammen und sind im Praxisalltag eine wichtige Entscheidungshilfe. Schweizer Fachgesellschaften adaptieren meist internationale Leitlinien auf die Besonderheiten des Schweizer Gesundheitssystems, für die Hausarztmedizin ist dies bisher nicht geschehen. In der Hausarztmedizin ist dies besonders wichtig, da spezialärztliche Guidelines nicht ohne Anpassung auf das Niedrigprävalenzsetting, das zudem geprägt ist von chronischen Krankheiten und Multimorbidität, übertragbar sind. Genau diese Patientenpopulation ist in den Studien, die den Guidelines zugrunde liegen, meist zu wenig abgebildet.
Das Institut für Hausarztmedizin Zürich hat es sich zum Ziel gesetzt, Guidelines für Schweizer Grundversorger_innen für praxisrelevante Krankheitsbilder und Symptome zu erstellen. Sie werden auf Basis offiziell anerkannter Qualitätskriterien zur Leitlinien-Erstellung entwickelt, sind ohne Partikular-Interessen nur der wissenschaftlichen Evidenz verpflichtet und FMH-akkreditiert.
Hintergrund
Qualitative und methodische Aspekte von Guidelines
Zu beachten ist, dass ein niedrigerer Evidenzgrad nicht zwangsweise bedeutet, dass die Annäherung an die Realität schlechter ist. Wenn es etwa für ein kostengünstiges Verfahren wegen mangelndem kommerziellen Interesse oder aus ethischen Erwägungen keine experimentellen wissenschaftlichen Studien gibt, das Verfahren aber dennoch allgemein üblich ist und ein Konsensus innerhalb der Expertengruppe darüber vorliegt, so erhält die Methode die Empfehlungsstärke Good Clinical Practice (GCP). Als anschauliches Beispiel mag die Validierung eines Fallschirms für den Sprung aus dem Flugzeug gelten – eine randomisiert kontrollierte Studie (RCT) mit und ohne Fallschirm verbietet sich hier aus nachvollziehbaren Gründen, das Evidenzniveau wäre demzufolge niedrig, aber die Empfehlung einen Fallschirm zu tragen im Expertenkonsens. Oder als etwas praxisorientierteres Beispiel, wäre es ethisch nicht vertretbar, onkologischen Patient_innen in einem RCT eine notwendige Schmerztherapie vorzuenthalten. Die Empfehlungsstärke GCP ist somit von der Wertigkeit trotz fehlendem Evidenznachweis im klinischen Alltag einer IA-Empfehlung nicht unbedingt unterlegen. Es gilt «the absence of evidence is not the evidence of absence (of evidence) (13).
Aber auch ein massiver Publikationsbias kann die Aussagekraft limitieren. Das ist der Fall, wenn bei Metaanalysen (als mit hoher Evidenz und damit hohem Vertrauensbonus anerkannte wissenschaftliche Arbeiten) Studien mit negativen Ergebnissen nicht einbezogen wurden und darauf basierend eine Guideline-Aussage formuliert wird. Ein hoher Evidenzgrad ist somit nicht immer Ausdruck einer grösseren Realitätsnähe.
Guidelines in der Hausarztmedizin
Ungeachtet aller methodischen Ansprüche, die natürlich auch für hausärztliche Guidelines gelten, ist die Grundversorgung in einem spezifischen Setting, dem sogenannten Niedrigprävalenzbereich angesiedelt. Dies hat weniger für die Therapie, vor allem aber für die Diagnostik eine
grosse Bedeutung. Denn die Vorhersagewahrscheinlichkeit, genauer der positiv prädiktive Wert eines diagnostischen Tests, ist neben den testspezifischen Kriterien wie Sensitivität und Spezifität vor allem von der Prävalenz beeinflusst. Guidelines können daher nicht ohne Anpassungen aus dem Spital- oder spezialisierten Setting in die Grundversorgung übertragen werden, sondern brauchen eine Adaption an die Prävalenz.
Es gilt zu bedenken, dass spezialärztliche Guidelines sich jeweils auf eine spezifische Krankheit oder Symptom fokussieren, den Einfluss von Komorbiditäten oder polypharmazeutische Interaktionen damit ungenügend berücksichtigen. Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist, dass multimorbide ältere Probanden in Studien unterrepräsentiert oder häufig sogar ausgeschlossen werden. Somit braucht es bei Guidelines für die Hausarztmedizin einen Abgleich, inwiefern die zugrundeliegenden wissenschaftlichen Daten und daraus resultierende Empfehlungen auf das «typische Patientengut» in der Hausarztpraxis anwendbar sind. Eine Möglichkeit der Annäherung an diese Problematik ist der Einbezug von Registerdaten. Sie ermöglichen als Real World Data Aussagen zur Versorgungsrealität auch der Patient_innen, die wegen Alter oder Begleiterkrankungen aus randomisierten klinischen Prüfungen ausgeschlossen sind und dienen somit ebenfalls der Qualitätssicherung (14-16). Registerdaten erlauben auch Aussagen über Behandlungen, für die es keine vergleichenden Studienergebnisse gibt (wie z.B. die verschiedenen NOAK-Substanzen).
Bei der Prüfung der Anwendbarkeit von Guidelines sind auch kulturelle und kontextuelle Verhältnisse des Gesundheitssystems zu beachten, wie dessen Finanzierung und vor allem Organisation. So verfügen beispielsweise viele Hausarztpraxen in anderen europäischen Ländern nicht über ein Praxislabor und teilweise nicht einmal über ein EKG.
Dies stellt insbesondere an in der Grundversorgung tätige Ärztinnen und Ärzte einen hohen Anspruch. Ihre Auf-
gabe ist es, in einer patientenzentrierten, personalisierten Medizin (17-19)
– zu evaluieren, inwiefern der in einer Guideline abgebildete Regelfall auf die individuelle Situation übertragbar ist
– bei Mehrfacherkrankungen in Konflikt tretende Handlungsempfehlungen aus den einzelnen darauf anwendbaren Guidelines zu koordinieren
– die Patienten-Präferenz zu eruieren, nachdem transparent über die konkrete Situation informiert wurde.
Guidelines in juristischem Kontext
Abschliessend sei noch ein weiterer wichtiger Aspekt in Zusammenhang mit Guidelines erwähnt. Grundsätzlich besteht keine zwingende Verpflichtung zur „Leitlinienbehandlung“ und diesbezüglich keine rechtliche Verbindlichkeit in der Schweiz. Mitarbeiter_innen des IHAMZ sind regelmässig als Gutachter_innen für Gerichte und Staatsanwaltschaften tätig. Hier zeigt sich, dass Guidelines in straf- wie zivilrechtlichen Verfahren und Haftpflichtfällen bei der Beweiswürdigung eines Gutachtens eine zentrale Rolle einnehmen. Die Gerichte fragen nicht mehr nur nach dem «Facharztstandard» anhand von Guidelines, sondern in jüngster Zeit explizit auch nach dem Evidenzgrad und Grad der Behandlungsempfehlung. Die Juristenschaft erhebt Guidelines zu einer Art «Ersatzgesetzgebung». Eine neue Qualität ist zudem, dass in einigen Verfahren nicht nur akute Versäumnisse (wie etwa das Verkennen eines akuten Herzinfarktes) zum Prozess führen, sondern auch die Frage nach einem abwendbar gefährlichen Verlauf. Mit Betrachtung der langjährigen Therapie wird gezielt hinterfragt, inwiefern z.B. das HbA1c bei einem Diabetes oder Blutdruck und Cholesterin nicht im Zielbereich der Guidelines lagen und daher ein ärztlicher Behandlungsfehler ein kardiovaskuläres Ereignis wie einen Infarkt oder eine Amputation verschuldet hat.
Dies soll aber nicht dazu führen, aus Angst vor Fehlentscheidungen Leitlinien-Empfehlungen blind Folge zu leisten. Es bedarf der Überprüfung der Anwendbarkeit im konkreten Fall und der gewissenhaften Aufklärung über die verschiedenen zur Wahl stehenden Behandlungsoptionen, sodass die Patientin oder der Patient unvoreingenommen der ärztlichen Meinung im Shared-Decision-Making eine Entscheidung fällen und individuellen Wunsch äussern kann. Wichtig ist im juristischen Kontext, dass der medizinische Entscheid transparent nachvollziehbar dokumentiert wird.
Institut für Hausarztmedizin Universitätsspital Zürich (IHAMZ)
Pestalozzistrasse 24
8091 Zürich
andrea.rosemann@usz.ch
Guidelines liefern eine wichtige Hilfestellung für den (haus-)ärztlichen Alltag, indem sie die unüberblickbare Fülle des medizinischen Wissens zusammenfassen. Sie sind nur so gut wie sie unabhängig sind und wie gut die Methodik ihrer Erstellung ist. Das Institut für Hausarztmedizin der Universität Zürich (IHAMZ) erstellt evidenzbasierte und interessensunabhängige Guidelines als
Orientierung für Schweizer Hausärztinnen und Hausärzte, die die Besonderheiten der Grundversorgung wie Niedrigprävalenz-Setting und multimorbides Patientengut berücksichtigt. Die IHAMZ-Guidelines sind auf der Homepage www.hausarztmedizin.uzh.ch frei zugänglich und sind zudem, nach dem Akkreditierungsprozess durch die FMH/SAQM auf der Online-Plattform «Guidelines Schweiz» www.guidelines.fmh.ch publiziert.
1. Naylor R. Medication Errors: Lessons for Education and Healthcare. Radcliffe Medical Press, Oxford. 2002.
2. Sackett DL. Evidence-based medicine and treatment choices. Lancet. 1997;349(9051):570; author reply 2-3.
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4. Brunner HH. Guideline für Guidelines. Schweizerische Ärztezeitung. 2020;2000;81: Nr 9.
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11. AWMF-Regelwerk Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, www.awmf.org.
12. Methodenreport nationale Versorgungsleitlinien NVL, www.leitlinien.de.
13. Alderson P. Absence of evidence is not evidence of absence. BMJ. 2004;328(7438):476-7.
14. Stausberg J MB, Bestehorn K, et al. . Memorandum Register für die Versorgungsforschung: Update 2019. Gesundheitswesen. 2020;82:e39–e66. doi: 10.1055/a-1083-6417.
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16. European Medicines Agency (EMA) The Cross-Committee Task Force on Patient Registries . Discussion paper: use of patient disease registries for regulatory purposes—methodological and operational considerations. 2018;EMA/763513/2018.
17. Schleidgen S, Klingler C, Bertram T, Rogowski WH, Marckmann G. What is personalized medicine: sharpening a vague term based on a systematic literature review. BMC Med Ethics. 2013;14:55.
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PRAXIS
- Vol. 112
- Ausgabe 10
- August 2023