PRAXIS-FALL

Wenn das Hirn das Herz zum Stoppen bringt



In der vorliegenden Ausgabe der «Praxis» beschreiben Andrea Burri, Nina Graf und Michael Studhalter den interessanten Fall einer Patientin, bei der eine HSV-Enzephalitis zu einer Sinusknotendysfunktion führte [1]. Diese Fallbeschreibung ist aus dreierlei Hinsicht äus­serst lehrreich.
Erstens führt sie eindrücklich den Ankereffekt (Anchoring Effect) vor Augen, der die unbewusste Beeinflussung eines Entscheidungsprozesses durch früh erhaltene In­formationen, sogenannte Anker, beschreibt. Die auf der Notfallstation aufgezeichnete selbstlimitierende Asystolie könnte ein solcher Anker gewesen sein, der die Diagnostik anfänglich auf eine kardiale Ursache lenkte und dabei Begleitsymptome vorerst in den Hintergrund rücken liess.
Zweitens weist der Fall auf den Inselcortex als wenig bekannte, aber faszinierende Hirnregion hin. Im Grunde genommen ist die Bezeichnung «Insel» unpassend, da dieser Abschnitt der Hirnrinde nicht abgeschieden und isoliert ist, sondern im Gegenteil funktionell und anatomisch reichhaltige Verknüpfungen aufweist. Die exakte Abgrenzung in funktionelle Unterregionen ist weiterhin Gegenstand der Forschung, beinhaltet jedoch verschiedenste Aspekte wie Sozialverhalten und Emotionen, Geschmackssinn, Gleichgewicht, Schmerzverarbeitung, Motorik und auch über­geordnete Kontrolle von vegetativen Funktionen wie etwa Blutdruck und Herzschlag. Dementsprechend können Störungen des Inselcortex zu verschiedensten, teilweise auch subtilen Symptomen führen. Insbesondere bei epileptischen Anfällen ist die die Zuordnung zur Inselregion oft herausfordernd, da typische epileptisch zuordenbare Symptome erst nach Ausbreitung in den frontalen oder temporalen Hirnlappen auftreten können. Autonome epileptische Anfälle sind sehr selten, sollten aber bei entsprechenden wiederholten, unerklärlichen, stereotypen Ereignissen differenzialdiagnostisch mitberücksichtigt werden [2].
Drittens illustriert der Fall, dass eine Herpes-simplex-Virus-1(HSV-1)-Enzephalitis sich zu Beginn nicht immer fulminant präsentieren muss. Eine verzögerte Diagnostik und Therapie sind keine Seltenheit und mit einem schlechten Ausgang assoziiert [3, 4]. Bei Patientinnen und Pa­tienten mit unklarer Infektkonstellation und Verwirrtheitszustand sollte deshalb niederschwellig auch an eine HSV-1-Enzephalitis gedacht und mittels Lumbalpunktion ausgeschlossen werden, wobei zu beachten ist, dass in ­einem frühen Stadium der PCR-basierte Virusnachweis im Liquor selten auch falsch-negativ sein kann und die Lumbalpunktion bei persistierendem klinischem Verdacht wiederholt werden sollte [5].
Dr. med. Dr. phil. Urs Fisch

Oberarzt, Facharzt Neurologie FMH
Neurologische Klinik und Poliklinik
Universitätsspital Basel
Petersgraben 4
4031 Basel

urs.fisch@usb.ch

1. Burri A, Graf N, Studhalter M. Wenn das Hirn den Takt angibt. PRAXIS 2023;112 (10): 531 – 536. Jobst BC, Gonzalez-Martinez J, Isnard J, Kahane P, Lacuey N, Lahtoo SD, et al. The Insula and Its Epilepsies. Epilepsy Curr. 2019;19(1):11–21. https://doi.org/10.1177 /1535759718822.
3. Hughes PS, Jackson AC. Delays in initiation of acyclovir therapy in herpes simplex encephalitis. Can J Neurol Sci. 2012;
39(5):644–8. https://doi.org/10.1017/S0317167100015390.
4. Raschilas F, Wolff M, Delatour F, Chaffaut C, De Broucker T, et al. Outcome of and prognostic factors for herpes simplex ence­phalitis in adult patients: results of a multicenter study. Clin Infect Dis. 2002;35(3):254–60. https://doi.org/10.1086/341405.
5. Tunkel AR, Glaser CA, Bloch KC, Sejvar JJ, Marra CM, Roos KL, et al. The management of encephalitis: clinical practice guidelines by the Infectious Diseases Society of America. Clin Infect Dis. 2008;47(3):303–27. https://doi.org/10.1086/589747.

PRAXIS

  • Vol. 112
  • Ausgabe 10
  • August 2023