- Dyspnoe und Angst
Peter A., 36, Verkaufsleiter, entwickelte zunehmend starke Ängste in exponierten Situationen (Produktpräsentation, Verhandlungen), verbunden mit einer hypochondrischen Symptomatik (Angst vor Herzinfarkt und Hirntumor). Eine kognitive Verhaltenstherapie, streckenweise begleitet von einem SSRI-Antidepressivum, besserte die Symptomatik so weit, dass Herr A. weder im beruflichen noch im privaten Bereich unter wesentlichen Einschränkungen litt.
Im Herbst 2022 infizierte er sich trotz sorgfältig eingehaltener Schutzmassnahmen mit COVID-19. Es kam zu einem schweren Krankheitsbild mit Fieber und Dyspnoe, das zur stationären Aufnahme führte, davon eine Woche auf der Intensivstation. Dort wurde die Möglichkeit einer Intubation mit ihm besprochen, was aber letztlich vermieden werden konnte. Gleichwohl erlebte er seither eine massive Zunahme seiner Ängste, die sich mitunter zu einer Todesangst steigerten und mit suizidalen Gedanken verbunden waren.
Einleitung
Warum die Schnittstelle zwischen somatischer Medizin und Psychiatrie(1) wertvoll ist – nicht nur für Patienten/innen, sondern auch für beide Medizinbereiche
Medizin als Wissenschaft unterteilt sich in verschiedene Fachdisziplinen, was nicht nur historisch gewachsen ist, sondern auch sachlich erforderlich: Die jeweilige Art der Annäherung an den Forschungsgegenstand unterscheidet sich im internistischen, operativen und psychiatrisch-psychotherapeutischen Bereich markant voneinander. Notabene markant, aber nicht grundsätzlich: Letztlich geht es stets um die Verbesserung präventiver, diagnostischer und therapeutischer Methoden. Die zu behandelnden Krankheiten aber – und das gilt für die gesamte Medizin – existieren nicht als solche, sondern sie betreffen notwendig Personen, unsere Patientinnen und Patienten. Die Schnittstelle zwischen somatischer Medizin und Psychiatrie geht also deutlich über das Feld der konsiliarischen Mitbetreuung hinaus. Vor allem eröffnet sie für eine Medizin, die sich spätestens seit dem Beginn des
21. Jahrhunderts ausdrücklich zum Prinzip der Personalisierung2 bekennt, zwei entscheidende Dimensionen: Durch das interdisziplinäre Zusammenwirken wird der unhintergehbaren Mehrdimensionalität der Person, sei sie gesund oder krank, Rechnung getragen. Schon auf dieser grundsätzlichen Ebene entsteht ein klarer Mehrwert.
Auf der konkreten Ebene medizinischer Entscheidungen sinkt das Risiko, durch ein Befangensein in den Denkmustern des eigenen Faches relevante Sachverhalte zu übersehen: So wird die von einem Patienten berichtete Symptomkombination von Antriebslosigkeit, sozialem Rückzug und resignativer Stimmung zwar oft Ausdruck einer depressiven Störung sein, sie kann aber auch auf einer Hypothyreose beruhen – mit entsprechend grossen Konsequenzen für das therapeutische Prozedere.
Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden die klinisch häufige, nicht selten das aktuelle Zustandsbild sogar prägende Verknüpfung von Dyspnoe und Angst betrachtet werden.
Angst als Element der conditio humana
Angst ist, wie die Traurigkeit, primär keine psychische Störung. Im Gegenteil, in bestimmten Kontexten Angst zu haben oder deprimierter Stimmung zu sein, gehört zu den grundlegenden affektiven Reaktionsformen des Menschen, ist Teil der conditio humana. So würde es das Umfeld als befremdlich, ja «pathologisch» erleben, wenn eine Person nach dem Verlust eines nahestehenden Menschen keine Trauer zeigte oder auf die Mitteilung, selbst an einer lebensbedrohlichen Erkrankung zu leiden, nicht mit Angst reagierte. Die Abgrenzung einer «normalen» affektiven Antwort von einer unangemessenen oder gar krankhaften Angst stellt für die Psychiatrie zwar eine Herausforderung dar, ist aber lediglich ein fachspezifisches Beispiel für die in der gesamten Medizin bestehende Problematik, zuverlässig zwischen «gesund» und «krank» unterscheiden zu können.
Angst als Symptom
Als Symptom kann Angst bei einer Vielzahl psychischer und somatischer Erkrankungen auftreten.
Psychiatrie
Bei den später näher beschriebenen Angststörungen steht die Angst per definitionem im Zentrum. Jedoch gehen auch depressive Episoden häufig mit Angstgefühlen einher. Gleiches gilt für psychotische Störungen, seien sie dem schizophrenen Formenkreis zuzurechnen oder drogeninduziert: Das hier typischerweise vorliegende paranoide Erleben des Beobachtet- oder Verfolgtwerdens, mitunter begleitet von Sinnestäuschungen, löst regelhaft starke Angst aus. Besonders prägnant, ja vehement, ist die Angst häufig bei den im Grenzbereich zur somatischen Medizin angesiedelten deliranten Zustandsbildern, die vor allem postoperativ, als anticholinerge Nebenwirkung von Medikamenten oder im Kontext von Entzugssyndromen auftreten. Nicht zu vergessen sind die Häufigkeit und Intensität ängstlicher Syndrome bei allen Schweregraden dementieller Erkrankungen; deren Erkennbarkeit kann durch die bei fortschreitender Demenz zunehmend eingeschränkte Fähigkeit der Betroffenen zur (verbalen und sonstigen) Kommunikation wesentlich erschwert sein.
Somatische Medizin
Wer von einer schweren körperlichen Erkrankung betroffen ist, erlebt Angst. Insoweit stellt die im Zusammenhang mit einer Dyspnoe auftretende Angst den Sonderfall eines medizinweit verbreiteten Phänomens dar.
Nicht nur in Zeiten der COVID-19-Pandemie war und ist die Dyspnoe einer der häufigsten Gründe für die Vorstellung auf einer Notfallstation. Dort erhalten dyspnoische Patienten/innen aufgrund der potenziellen Lebensbedrohlichkeit der zugrunde liegenden Erkrankung in der Regel die Mindesttriagekategorie 3 nach ESI («Emergency Severity Index»), was bedeutet, dass innert 30 min. eine ärztliche Untersuchung durchzuführen ist. Kommen zusätzliche Risikofaktoren hinzu, werden die Triagekategorie 2 bzw. sogar 1 ausgesprochen und der Parameter «time-to-doctor» verkürzt sich auf 10 respektive auf 0 Minuten (2) (3).
Diese Dringlichkeit läuft parallel zu den Gefühlen von Anspannung und Angst, die die Patienten/innen erleben. Angst und Dyspnoe gehen meist Hand in Hand. Dyspnoe ist selbst dann, wenn sie mit objektiv erkennbaren Symptomen einhergeht, primär eine subjektive Empfindung (4). Daraus folgt, dass das Behandlungsteam eine durch den/die Patienten/in berichtete Dyspnoe stets ernstnehmen muss, auch wenn Atemfrequenz und Sauerstoffsättigung normal sind. Umgekehrt verspüren manche an einer chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) leidende Menschen trotz deutlicher respiratorischer Erschöpfungszeichen keinerlei Dyspnoe oder Angst.
Auf der Notfallstation kommt dem ersten klinischen Eindruck eine grosse Bedeutung zu: Junge verängstigte Patientin ohne Vorerkrankungen mit Hyperventilation? Junger Asthmapatient mit Fieber und Husten? Älterer Patient mit kardialer Vorerkrankung, Erstickungsangst und thorakalem Engegefühl? Ältere Dialysepatientin mit Atemnot und geschwollenen Extremitäten? Daraus ergibt sich eine Vortestwahrscheinlichkeit, die zusammen mit dem einfachsten und schnellsten diagnostischen Werkzeug, den Vitalparametern, den Ablauf weiterer Abklärungen bestimmt. Zu den diagnostischen Standardmethoden gehören das EKG, um einen akuten ST-Hebungsinfarkt sofort auszuschliessen, sowie – je nach Vortestwahrscheinlichkeit – Laboruntersuchungen (Troponin, CRP, Blutbild, Elektrolyte), arterielle Blutgasanalysen (Sauerstoffsättigung, CO2-Werte, Säure-Base-Status, Lactat, Elektrolyte) sowie radiologische Untersuchungen.
Unabhängig von ihrer Ursache sollten bei einer Dyspnoe nie nur somatische Interventionen erwogen werden, etwa die Therapie mit Sauerstoff, Bronchodilatatoren, Diuretika oder die Durchführung einer Herzkatheteruntersuchung. Der hier fast immer bestehenden Angst sollte mit Aufklärung über laufende diagnostische und therapeutische Massnahmen sowie mit der später näher beschriebenen «Normalisierung» bzw. «Entpathologisierung» begegnet werden. Der Hinweis auf sich verbessernde Vitalzeichen, etwa auf eine wieder normale Sauerstoffsättigung, wird sich bei verängstigten Patienten/innen oft als hilfreich erweisen.
Angst als eigenständige psychische Störung
Bei der generalisierten Angststörung (ICD 10: F41.1, ICD 11: 6B00), einer häufigen psychischen Störung mit einer Gesamtlebenszeitprävalenz von knapp 10% (5), stehen eine ständige Besorgtheit und Ängstlichkeit im Vordergrund. Diese gehen deutlich über eine sinnvolle Sorgfalt und Vorsicht bei täglichen Entscheidungen hinaus, erscheinen dem Umfeld, mitunter auch der betroffenen Person selbst, als irrational und sind – im Unterschied zu den phobischen Störungen – nicht auf gut erkennbare Auslöser zurückzuführen. Eine solche generalisierte, über lange Zeiträume bestehende Angst schränkt die Lebensqualität markant ein und zieht nicht selten sekundäre psychische Störungen wie Abhängigkeiten (speziell von Benzodiazepinen und/oder von Alkohol) oder depressive Episoden nach sich.
Bei den verschiedenen Formen der phobischen Störung (ICD 10: F40, ICD 11: 6B02, 6B03, 6B04) ist zwar auch die Angst das wesentliche Symptom, jedoch ist ihr Auslöser in der
Regel präzise zu benennen: Es können Objekte oder Situationen sein, die bei der betroffenen Person starke Angst oder eigentliche Panikattacken auslösen, etwa grosse Höhe, enge Räume, gefährliche Gegenstände, Tiere oder jede Art des sozialen Exponiertseins, etwa bei einem öffentlichen Vortrag.
Besonderer Erwähnung bedarf das sehr belastende Phänomen der Panikattacken. Dabei handelt es sich um plötzlich auftretende schwere Angstzustände mit zahlreichen körperlichen Symptomen, die typischerweise zwischen 30 und 45 Minuten – also sehr lange! – andauern. Sie können in bestimmten angstauslösenden Kontexten auftreten oder, was häufig ist, ohne erkennbaren Auslöser. Panikattacken kommen isoliert vor, aber auch als zusätzlich belastende Elemente einer generalisierten Angststörung oder phobischen Störung. Sie können die betroffene Person gerade wegen ihrer Unvorhersagbarkeit in einen circulus vitiosus mit gravierenden Folgen für Lebensqualität und soziale Kontakte führen («Angst vor der Angst»). ICD-10 erfasst die Panikstörung als eigene diagnostische Kategorie (F41.0), ebenso ICD-11 (6B01).3
Die soeben überarbeiteten Behandlungsempfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD) heben die folgenden vier Säulen der Behandlung von Angststörungen hervor: (1) Aufklärung über Selbsthilfe und Patientenorganisationen, (2) Psychotherapie, (3) Pharmakotherapie, (4) allgemeine Massnahmen wie Lebensstil, Sport, Stressreduktion, Achtsamkeit (6)4. Was therapeutische Interventionen im engeren Sinne anbetrifft, so empfehlen sowohl die SGAD wie auch internationale Leitlinien, etwa diejenigen des britischen NICE5 (7) (8) und der deutschen AWMF6 (9), übereinstimmend ein psychotherapeutisches Vorgehen als Mittel der ersten Wahl. Dabei steht aufgrund der grossen Datengrundlage und der dadurch vielfach belegten Wirksamkeit die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) im Vordergrund. Aber auch systemische, psychoanalytische und die Therapieschulen übergreifende Methoden kommen zum Einsatz, wenn auch auf unterschiedlich stark evidenzbasierter Grundlage (10). Therapieergänzende digitale Hilfsmittel gewinnen kontinuierlich an Bedeutung (11).
Vor allem bei mittelschweren oder schweren Verläufen wird eine zusätzliche – also nie nur eine alleinige! – Therapie mit Antidepressiva empfohlen, speziell mit selektiven Serotonin- oder Serotonin/Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI, SSNRI) wie Escitalopram und Venlafaxin, alternativ mit älteren trizyklischen Antidepressiva (TZA) wie Clomipramin (bei der Panikstörung) oder Opipramol sowie mit dem Kalziummodulator Pregabalin (bei der generalisierten Angststörung). Auch hochpotente Benzodiazepine wie Lorazepam haben ihren Platz: Sie wirken gerade bei massiver Angst besonders rasch und zuverlässig, eignen sich aber wegen ihres erheblichen Abhängigkeitspotentials nur für eine kurzfristige Krisenintervention, ein Umstand, über den die Patienten/innen rechtzeitig und sorgfältig informiert werden müssen.
Dyspnoe und Angst
Das Prinzip der «Normalisierung» oder «Entpathologisierung»
Die Atmung ist ein Lebensvorgang, der in gesunden Zeiten meist kaum wahrgenommen und schon gar nicht problematisiert wird. Wird das Atmen aber plötzlich als erheblich erschwert oder als in bedrohlicher Weise eingeschränkt erlebt, löst dies Angst aus. Gleiches gilt für die unerwartete Veränderung anderer wichtiger Körperfunktionen wie Herzschlag oder Sensomotorik. Wer plötzlich ein noch nie erlebtes «Herzstolpern» verspürt oder eine markant veränderte Wahrnehmung und Steuerbarkeit der eigenen Hand, wird mit Konsternation und eben Angst reagieren. Dass ein/e Patient/in in der Praxis oder im Spital, der/die eine akut aufgetretene Dyspnoe erlebt, Angst bekommt, ist also in erster Linie eine erwartbare, «normale» Reaktion und nicht Ausdruck eines eigenständigen psychiatrischen Problems. Auch entspricht die Vielfalt individueller Reaktionen auf das Erleben einer Dyspnoe – von hilflos-ängstlichem Rückzug und Resignation bis hin zu selbstbewusstem Aufbäumen und Aktionismus – der grossen Bandbreite von Persönlichkeitsmerkmalen, die Menschen aufweisen.
Gelingt im Kontakt mit dem/der Patienten/in auf dem Boden einer tragfähigen therapeutischen Beziehung eine solche «Normalisierung» der Angst, also ihre Einordnung als verständliche und erwartbare Reaktion auf eine plötzliche gesundheitliche Einschränkung, so kann dies entlastend und, im besten Fall, spürbar angstmindernd wirken.
Natürlich muss sorgfältig darauf geachtet werden, dass der/die Patient/in dies nicht missversteht als ärztliche Unterschätzung oder gar Verharmlosung der Angst, denn in diesem Fall würde sich diese Angst eher weiter verstärken als zurückbilden. Überdies ist zu betonen – vor allem gegenüber der betroffenen Person selbst –, dass auch eine situationsangemessene, nachvollziehbare Angst nicht einfach auszuhalten ist (weil sie ja «normal» sei), sondern durch wirksame therapeutische Massnahmen reduziert werden kann, sofern dies im jeweiligen medizinischen Kontext sinnvoll ist.
Therapieoptionen bei fehlender und bei bestehender psychiatrischer Komorbidität
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Das oben genannte Prinzip der «Normalisierung» oder «Entpathologisierung» im Falle einer ängstlichen Reaktion auf das Erleben von Dyspnoe ist unabhängig davon bedeutsam, ob die betroffene Person eine psychiatrische Vorerkrankung hat oder nicht. In beiden Fällen kann durch das «Normalisieren» der erlebten Angst eine Entlastung erreicht werden. Auch unterscheiden sich die jeweiligen therapeutischen Optionen nicht grundsätzlich, jedoch sind andere Akzente zu setzen.
Dyspnoe und Angst ohne psychiatrische Vorerkrankung
Besteht keine psychiatrische Vorerkrankung, insbesondere keine Angststörung, liegt der Schwerpunkt darauf, gemeinsam mit dem/der Patienten/in die Angst als eine verständliche, ja erwartbare Reaktion auf das subjektiv bedrohliche Erleben der Dyspnoe einzuordnen – und nicht etwa als Zeichen von Schwäche oder psychischer Labilität. Diesen Kontext werden die Betroffenen selbst, gerade wenn sie erstmals mit einer Dyspnoe konfrontiert sind, häufig nicht direkt ansprechen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Es kann eine Scham bestehen, die Angst offen zu legen («Was denken die Behandler dann über mich?»), oder vorbestehende Persönlichkeitszüge gestatten es nicht, sich das ängstliche Erleben und die damit verbundene Hilfsbedürftigkeit einzugestehen («Damit muss ich allein fertig werden»). Der erste Schritt wird hier nicht selten bei den ärztlichen und pflegerischen Fachpersonen liegen, die wiederum genau dies als eine wichtige Aufgabe erkennen und anerkennen müssen. Wird die «Hürde des Ansprechens» der Angst auf diese Weise abgesenkt, kann allein dies bei Patienten/innen zu einem Rückgang der ängstlichen Angespanntheit führen.
Ein solches empathisches und klares, aber nie drängendes Ansprechen von angst- oder schambesetzten Themen, die der/die Patient/in trotz bestehenden Leidensdruckes entweder nur implizit kommuniziert, etwa durch Mimik und Verlegenheitsgesten, oder gar völlig umgehen will, ist von entscheidender Bedeutung. Es stellt ein zentrales Element jeder psychotherapeutischen Intervention dar – und sollte daher auch im Kontext von Dyspnoe und Angst seinen Platz haben.
Führt diese Schaffung eines offenen, nicht schambesetzten Gesprächsraumes, verbunden mit der somatischen Therapie der mit Dyspnoe einhergehenden Erkrankung, nicht zu einer akzeptablen Besserung, oder ist die Angst von Beginn an so massiv, dass ein Gespräch kaum möglich ist, können hochwirksame Benzodiazepine zur Anwendung kommen, etwa Lorazepam, dies allerdings wegen des Risikos einer Abhängigkeitsentwicklung nur kurzfristig. Sedierende Neuroleptika wie Pipamperon sollten vor allem in solchen Situationen eingesetzt werden, in denen die Gabe von Benzodiazepinen problematisch oder kontraindiziert ist, etwa bei Patienten/innen mit einer bereits bestehenden Substanzabhängigkeit. Die Neueinstellung auf eine antidepressive Substanz wird bei akuter Angst im Kontext einer somatisch verursachten Dyspnoe selten zur Diskussion stehen. Jedoch sind Situationen denkbar, in denen sich eine schwere Angstsymptomatik trotz Behandlung zu verselbstständigen oder mit einer tiefergehenden depressiven Verstimmung zu verbinden droht. Dies wird im folgenden Abschnitt erörtert; der Einbezug einer psychiatrischen Fachperson im Sinne eines Konsils wird im stationären Setting hier oft indiziert sein.
Stehen physio-, speziell atemtherapeutische Interventionen zur Verfügung, stellen sie ein wesentliches Element dar, um durch das gleichzeitige Adressieren körperlicher und psychischer Funktionen Angst- und Anspannungsgefühle zu vermindern. Insbesondere können sie im akutsomatischen Bereich rasch und für kurze Zeiträume zum Einsatz kommen. Hingegen dürften zeitliche und personelle Ressourcen für psychotherapeutische Methoden im engeren Sinne (etwa die kognitive Verhaltenstherapie, KVT) nur in den wenigsten Fällen vorhanden sein, sofern sie bei einer situativ klar auf die Dyspnoe begrenzten Angst überhaupt indiziert sind.
Dyspnoe und Angst bei bestehender psychiatrischer Vorerkrankung
Gerät eine Person mit einer bestehenden psychiatrischen Erkrankung in einen dyspnoischen Zustand und entwickelt deswegen Angst, so entsteht ein komplexes Zusammenspiel zwischen der Vorerkrankung und der akuten Belastung. Dies gilt für jede Art von psychischer Vorerkrankung, also etwa für Menschen mit einer rezidivierenden depressiven Störung, einer schizophrenen Psychose und einer Zwangs- oder Angststörung. Ganz unterschiedliche Verlaufstypologien werden beobachtet:
– Das akute somatische Problem steht derart im Vordergrund, dass die psychiatrische Problematik vorübergehend weniger ins Gewicht zu fallen scheint und der/die Patient/in, etwa aus Sicht der Angehörigen, sich der medizinischen Situation gegenüber unerwartet klar, ja souverän verhält («Wir hätten nie gedacht, dass Du so stark bist»).
– Die Dyspnoe wird von der betroffenen Person unmittelbar als weiteres negatives und beängstigendes Erlebnis in ihren bereits zuvor fragilen psychischen Zustand integriert, was, vor allem im Falle einer Depression, zu einer raschen Eskalation bis hin zu Hoffnungslosigkeit und Suizidalität führen kann («Es musste ja so kommen; ich kann nichts tun, es hat alles keinen Sinn mehr»).
– In praxi dürfte die klinische Situation am häufigsten zwischen den genannten Extremen angesiedelt sein: Das akute Problem, die durch die Dyspnoe verursachte Angst, tritt in eine Art «Dialog» mit der bestehenden psychischen Erkrankung: Die betroffene Person nimmt sehr wohl wahr, dass es sich um zwei unterschiedliche Phänomene handelt und versucht, die Balance zwischen beiden zu halten. Dies kann mit Blick auf die gesundheitliche Doppelbelastung ein kräftezehrender, ja zermürbender Vorgang sein. Dem/der Patienten/in droht stets – speziell bei schwerer oder langanhaltender Dyspnoe – die Gefahr, den «inneren Kompass» zu verlieren und in die oben genannte ausschliesslich negative Denk- und Erlebenspirale zu geraten.
Genau hier liegt aber auch die Chance für eine therapeutische Intervention: Entscheidend ist die Erkenntnis des/der Patienten/in, dass er/sie von den medizinischen Fachpersonen ernst genommen und die dyspnoebedingte Angst nicht nur als erwartbares Element der psychischen Erkrankung betrachtet wird, das keiner weiteren Betrachtung bedarf. Erneut kann das erwähnte Prinzip der «Normalisierung» hilfreich sein: Erlebt die psychisch vorerkrankte Person, dass Ärzteschaft und Pflege ihre Angst gerade nicht als (weiteres) Zeichen individueller Pathologie und Schwäche sehen, so kann dies zu einer wertvollen, über die aktuelle Situation hinaus weisenden Erfahrung werden. Denn bei der späteren psychiatrisch-psychotherapeutischen Weiterbehandlung kann sie ein überzeugendes Gegengewicht bilden zu der von Patienten/innen häufig unausgesprochenen Sorge, ihre psychische Störung sei ein selbstverschuldetes Defizit. Dem vor allem bei der Depression, aber auch bei Angststörungen häufigen Abrutschen in markant negativ getönte Denkspiralen, in «kognitive Teufelskreise», kann so wirksam vorgebeugt werden.
Sind die vorbestehende psychische Erkrankung und deren allenfalls laufende Therapie bekannt, sollte versucht werden, eine durch das somatische Problem bedingte Unterbrechung zu vermeiden oder, wenn dies unmöglich ist, etwa bei einer notfallmässigen stationären Aufnahme, so kurz wie möglich zu halten. Die Fortsetzung einer bestehenden Psychopharmakotherapie dürfte, sofern internistischerseits keine problematischen Interaktionen oder Kontraindikationen vorliegen, kaum Schwierigkeiten bereiten. Bei einer laufenden Psychotherapie liegen die Dinge komplizierter. Hier ist in Absprache mit dem/der Patienten/in eine rasche Kontaktaufnahme mit dem/der Therapeuten/in erforderlich. Sollte dies nicht gelingen, zum Beispiel wegen Ferienabwesenheit, ist die Anforderung eines psychiatrischen Konsils sinnvoll.
Besonderer Erwähnung bedarf die Situation, dass sich – ohne vorbestehende psychische Störung – eine im Kontext der Dyspnoe aufgetretene Angst (oder sonstige psychische Problematik) verselbstständigt, also trotz Abklingen der Atembeschwerden persistiert oder sich gar verschlechtert. Auch hier spielt die therapeutische Beziehung eine entscheidende Rolle: Ein vermutetes Neuauftreten einer psychischen Störung sollte zügig, offen und lösungsorientiert mit dem/der Patienten/in besprochen werden, sei es durch den/die behandelnde/n Arzt/Ärztin, sei es im Rahmen eines psychiatrischen Konsils.
Wird in der Akutsituation einer erheblichen Dyspnoe bei einer etablierten psycho-pharmakologischen Therapie der zusätzliche Einsatz psychotroper Substanzen erwogen, gelten dieselben Prinzipien, die oben bezüglich psychiatrisch nicht vorerkrankter Patienten/innen dargestellt wurden. Auch hier dient es der langfristigen Behandlungskontinuität und damit -qualität, wenn der/die im Vorfeld behandelnde Psychotherapeut/in in Entscheidungen zur Medikation einbezogen, mindestens aber über diese informiert wird.
Schlussbemerkung
Eine akut aufgetretene Dyspnoe, oft vielsagenderweise «Atemnot» genannt, löst Verunsicherung und Angst aus. Dies gilt besonders, aber nicht nur dann, wenn die Dyspnoe den/die Patienten/in erstmalig und unerwartet trifft. Solche Situationen gehören zum klinischen Alltag, sind also häufig – und sie betreffen immer die Schnittstelle von somatischer Medizin und Psychiatrie. Bei diesem vermeintlichen «Grenzgebiet» geht es aber nicht um Grenzen, nicht um einen lästigen Zwang zum Miteinander medizinischer Disziplinen, sondern um kluge interdisziplinäre Zusammenarbeit. Gelingt sie, so wirkt sich dies nicht nur positiv auf die Behandlungsqualität aus, was natürlich der entscheidende Punkt ist, sondern auch auf den klinischen wie wissenschaftlichen Dialog zwischen somatischer Medizin und Psychiatrie (12) (13). Die von Angst begleitete Dyspnoe stellt ein besonders anschauliches Beispiel für diese Schnittstelle dar – und für die Chancen, die sie eröffnet.
1 Wenn in dieser Arbeit von «Psychiatrie» die Rede ist, inkludiert dies stets die Psychotherapie, eine zentrale Behandlungsmethode.
2 Der heute vielfach gebrauchte Begriff der «personalisierten Medizin»
ist nicht selbsterklärend. Mitunter führt er zu dem Missverständnis, er löse das Spannungsfeld zwischen der biologischen und der per-sonalen Ebene des Menschen auf. Das aber kann er nicht leisten (1).3 ICD-11 eröffnet neu die Möglichkeit, über die Kodierung MB23-H das Vorliegen von Panikattacken auch dann zu diagnostizieren, wenn die Kriterien für die Diagnose einer Panikstörung nicht erfüllt sind.
4 Der vollständige Text der überarbeiteten SGAD-Empfehlungen ist aktuell (Juli 2023) noch nicht veröffentlicht. Daher wird hier auf die vorläufige Zusammenfassung in der angegebenen Literaturstelle verwiesen.
5 National Institute for Health and Care Excellence
6 Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften
Klinik für Innere Medizin, Kantonsspital Winterthur
Brauerstrasse 15, 8400 Winterthur
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Lenggstrasse 31
8032 Zürich
und Privatklinik Hohenegg
Hohenegg 1
8706 Meilen
Therapeutische Umschau
- Vol. 80
- Ausgabe 6
- August 2023