Ethische Orientierung durch interkulturelle Kompetenz in interkulturellen Behandlungssituationen

In vielen europäischen Ländern sind interkulturelle Behandlungssituationen fester Bestandteil des medizinischen Alltags. Dabei entstehen nicht selten unterschiedliche Interesssens- und Entscheidungskonflikte, die auf Kommunikationsbarrieren, Kulturpraxis oder auf moralische Diversität zurückzuführen sind. In diesem Beitrag werden die Charaktereigenschaften der interkulturellen Behandlungssituationen mit ihrer ethischen Relevanz dargestellt. Ebenfalls werden einige Fähigkeiten und Fertigkeiten der interkulturellen Kompetenz beschrieben und deren Funktion anhand eines klinisch-ethischen Falles aufgezeigt. Die Chancen und Grenzen der interkulturellen Kompetenz bei einer ethischen Orientierung sind Gegenstand der Reflektion.



Kulturelle Pluralität ist schon längst konstitutionelle Eigenschaft vieler Länder geworden. Nach aktuellen statistischen Angaben machen Menschen mit Migrationshintergrund in der Schweiz 39,2% (2021) [1], in Deutschland 27,3% (2021) [2] und in Österreich 19% (Anfang 2023) [3], der Bevölkerung aus. Zwar reichen weder diese statistischen Angaben noch die Angaben über Nationalitäten oder religiöse Zugehörigkeiten dieser Menschen aus, um ein klares ‚Kulturbild‘ eines Landes zu machen. Dennoch ist es berechtigt, aufgrund dieser Fakten über Pluralität, Diversität und Heterogenität an kulturellen Wertvorstellungen und Werthaltungen in den jeweiligen Ländern zu sprechen. Diese Wertvorstellungen und -haltungen sind wiederum keine konstanten und abstrakten Einheiten, sondern dienen für die Begründung individueller Entscheidungen und Handlungen. Ebenfalls sind sie Grundlage für die Sinngebung bestimmter Lebensumstände in verschiedenen Lebenswelten, wozu auch Krankheit und Kranksein gehören.

Kranksein als eine menschliche Grenzerfahrung ist eine besondere Daseinsform, in der das kulturell geprägte Wertesystem eines Menschen sich in unterschiedlichen Formen expliziert. Kommen Menschen aus unterschiedlichen Kulturräumen im Rahmen einer Behandlungssituation zusammen, entstehen dadurch nicht selten konfligierende Interessen und Haltungen, welche für die Gesundheitsberufe eine Herausforderung darstellen. Solche Situationen beeinträchtigen wiederum den Zugang und die Inanspruchnahme der Gesundheitsleistungen und führen demzufolge zu einer suboptimalen Gesundheitsversorgung. Somit haben sie gravierende negative Auswirkungen auf das Wohlbefinden von Patienten sowie auf die professionelle Selbstwahrnehmung von ärztlichem und pflegerischem Personal. In diesem Zusammenhang entstehen in der medizinischen Praxis einer wertpluralen Gesellschaft zahlreiche ethische Fragen mit besonderem Bezug zur Interkulturalität und kulturellen Differenz [4].

In diesem Beitrag werden zunächst die ethisch relevanten Aspekte des interkulturellen Verhältnisses in Behandlungssituationen dargestellt. Danach werden die Entstehungsgründe einiger ethischer Konflikte problematisiert. Im Fokus dieses Beitrags liegen die relevanten Kompetenzen in interkulturellen Behandlungssituationen, die uns bei der Gestaltung einer ethischen Orientierung helfen können. Chancen und Grenzen dieser Kompetenzen sind Gegenstand der ethischen Reflektion.

1. Das Interkulturelle Verhältnis in Behandlungssituationen

Die unterschiedlichen Inhalte der Begriffe ‚der Fremde‘ und ‚der Andere‘ bieten sich für eine Differenzierung zwischen inter- und intrakulturellem Kontext in der Gesundheitsversorgung als ein hilfreicher Ausgangspunkt an. Nach der Differenzierung von Stenger steht hinsichtlich des Anderen ein starker relationaler Aspekt im Vordergrund. Diese starke Relation ergibt sich zwischen dem Eigenen und dem Anderen durch ein gemeinsames Zugehörigkeitsfeld. Die Zuordnung des Anderen lässt sich in einem intrakulturellen Verhältnis durch gemeinsame Felder innerweltlich darstellen [5]. Die geteilte kulturelle und kulturhistorische Zugehörigkeit erstreckt sich „von den alltäglichen Lebens- und Umgangsformen über Sprache und nonverbale Kommunikationsweisen, über Sitten- und Moralvorstellungen bis zu geschichtlichen Herkunftsfragen und andere[m] mehr…“ [5, S. 371]. In einem interkulturellen Verhältnis, in dem es um die Begegnung mit Fremden geht, fehlen dagegen diese Zugehörigkeitsfelder, und es taucht eine fremde Welt auf. Aufgrund des Fehlens der gemeinsamen kulturellen Felder ist auch die Zuordnung des Fremden innerhalb der Innenwelt schwierig. „‚Andersheit‘ konnte sozusagen immer innerhalb der Ordnung Platz nehmen, ‚Fremdheit‘ beansprucht ein ‚Ausserhalb‘. […] Mit dem ‚Fremden‘ wird unweigerlich der Schritt eines Kulturtranszensus getan.“ [5, S. 377]. Die Auffassung des Fremden und die Differenz zwischen ‚Heimwelt‘ und ‚Fremdwelt‘ können immer von der Beobachterperspektive relativ erfahren werden [5]. „Alles Fremde ist dann deshalb fremd, weil es nicht zu diesem Eigenen der Heimwelt gehört.“[5, S. 355]

Ein interkulturelles Verhältnis in Behandlungssituationen entsteht in einem zeitlichen und örtlichen Raum, in dem sich Beteiligte als Angehörige unterschiedlicher Kulturen fühlen und verstehen. Dieses Verhältnis setzt zwar eine Begegnung voraus, in der Arzt oder Pflegekraft und ein von deren Handeln betroffener Patient Angehöriger unterschiedlicher Kulturräume bzw. Heimwelten sind [5]. Dennoch darf die Entstehung des interkulturellen Verhältnisses nicht auf die unterschiedliche Hautfarbe, Nationalität, Religion, Sprache, Tradition oder ethnische Zugehörigkeit reduziert werden. Das heisst, die Interkulturalität darf nicht anhand dieser Eigenschaften von aussen bestimmt oder sogar diktiert werden. Sie muss vielmehr aus dem Wahrnehmen und Verstehen der Beteiligten – also aus dem jeweiligen Kontext – entstehen [6].

Zweifelsohne ist jedes Arzt/Pfleger-Patient-Verhältnis besonders und einmalig. Ob eine Beziehung in der Gesundheitsversorgung intrakulturell oder interkulturell ist, verändert die konstitutionellen Eigenschaften dieses Verhältnisses nicht kategorisch. Dennoch gibt es bestimmte Eigenschaften, die im interkulturellen Verhältnis vorzufinden sind und sich vom intrakulturellen Verhältnis graduell unterscheiden. Beispielsweise kann die fehlende gemeinsame Sprache in der Kommunikation mit ihren verbalen, non-verbalen und paraverbalen Dimensionen die Interaktionen entscheidend prägen. Auch wenn in solchen Situationen das Gesagte übersetzt werden kann, so bleiben immer einige Lücken in der Kommunikation, die vom Wesen her nicht erfüllbar sind. Es bleibt immer eine gewisse ‚Rest-Sprachlosigkeit‘ übrig, die für beide Seiten mit einer Hilflosigkeit verbunden ist.

Kulturell geprägte Sinndeutungen und Sinngebungen zur Entstehung und Heilung von Krankheiten lassen sich nicht immer in die eigene Heimwelt zuordnen. Ebenfalls sind kulturspezifische Wertvorstellungen und Denksysteme und daraus resultierende Werthaltungen für andere schwierig nachvollziehbar. Die Fremdheit der Heimwelten erschwert somit nicht nur die Nachvollziehbarkeit der getroffenen Entscheidungen, sondern auch die rationale Zuordnung der gelieferten Argumente. Diese und andere Diversitäten in interkulturellen Behandlungssituationen führen zu gewissen Herausforderungen, die wir in intrakulturellen Kontexten in derselben Form nicht erleben.

2. Ethische Konfliktfelder in interkulturellen Behandlungssituationen

Die Ursachen für die Entstehung der ethischen Konflikte in interkulturellen Behandlungssituationen sind vielfältig und komplex. Zahlreiche ethische Konflikte lassen sich dabei auf Kommunikationsbarrieren, Kulturpraxis und moralische Diversität zurückführen, die hier grob dargestellt werden. Die Sprache als wichtiges Medium prägt bekanntermassen das Arzt-Patient-Verhältnis vom Erstkontakt bis zum Lebensende. Fehlt dieses Medium oder ist es beeinträchtigt, sind vielfältige Kommunikationslücken in der Beziehung vorprogrammiert [7]. Auch wenn in solchen Situationen durch eine Dolmetschertätigkeit eine notwendige Verständigung geleistet werden kann, so ist sie immer mit einer Beeinträchtigung des authentischen Gesprächs verbunden. Die Verletzung des authentischen Gesprächs sind häufig Hindernisse für eine adäquate Diagnosestellung und somit auch eine bedarfsgerechte Therapie. Denkt man an das psychotherapeutische Gespräch und die ‚sprechende Medizin‘, wo die Sprache nicht nur ein Mittel für die Therapien, sondern die Therapie selbst ist, so fehlt dort das therapeutische Instrument.

Es darf auch nicht übersehen werden, dass die Qualität einer Übersetzungsleistung stets von den Kompetenzen der dolmetschenden Person abhängt. Bekanntermassen ist eine professionelle Dolmetscherleistung mit bürokratischen und finanziellen Hürden verbunden. Umso problematischer ist es dann, wenn die Aussagen des Arztes oder Patienten durch – vor allem – Laien-Dolmetscher absichtlich filtriert, zensiert oder nicht weitergegeben werden [8]. In so einer Situation ist dem Arzt nicht bewusst, dass er seiner ärztlichen Aufklärungspflicht nicht nachgekommen ist. Dieser Zustand ist jedoch nicht nur ethisch problematisch, sondern wirft auch einige juristisch kritische Fragen auf.

Kulturpraxis im weiteren Sinne bleibt für die behandelnden und pflegenden Gesundheitsprofessionen eine Herausforderung, wenn traditionelle und religiöse Praktiken des Patienten für sie nicht in die eigene Heimwelt zuzuordnen sind. Fasten oder religiöse Speisevorschriften sind für manche praktizierende Muslime hin und wieder ein Anlass für die Ablehnung oder Verschiebung bestimmter Therapien. Kulturspezifische Trauerrituale oder hygienische Praktiken überfordern gelegentlich einen getakteten Stationsalltag. Die häufige und mit mehreren Personen durchgeführte Krankenbesuchspraxis führen zur Beeinträchtigung des Wohls anderer Patienten und sind somit ein ‚Störfaktor‘ für den Krankenzimmer-Frieden. Zwar ist nicht jede Kulturpraxis mit der Entstehung eines ethischen Konflikts verbunden. Dennoch sind sie ‚praktische Stolpersteine‘ unterschiedlichen Charakters im klar strukturierten und uniformen Stationsalltag.

Aufgrund der kulturell geprägten Menschenbilder, Wertvorstellungen und -haltungen werden bestimmte medizinische Interventionen als moralisch richtig oder falsch bewertet. Moralische Akzeptanz oder Ablehnung von medizinischen Massnahmen wie Bluttransfusion, postmortale Organspende, Organtransplantation oder Schwangerschaftsabbruch u.a. sind dafür nur einige prominente Beispiele. Moralische Diversität führt nicht nur zur moralisch unterschiedlichen Bewertung bestimmter Massnahmen, sondern ist auch bei der Lösung ethischer Konflikte eine wichtige Herausforderung. Denn auch die Zuschreibung bestimmter Implikationen zu den gültigen ethischen Prinzipien kann kulturbedingt voneinander divergieren [9].

In manchen Kulturräumen ist die Patientenautonomie das wichtigste ethische Prinzip. Sie kann sogar als Totschlagargument dienen, wenn man sie in der Form von ‚Autonomie-Fetischismus‘ vertritt. Die wichtige Rolle und bedeutsame Funktion der Familienmitglieder in diversen Gemeinschaften haben zum Begriff der Familienautonomie in medizinischen Entscheidungsprozessen geführt. Familienautonomie konkretisiert sich wiederum im Umgang mit einer infausten Prognose und bei der Weitergabe einer Krebsdiagnose, wobei die Familienmitglieder dann unmittelbar am Entscheidungsprozess teilnehmen wollen und ggf. teilnehmen. Berücksichtigt man das häufige Befürworten der maximalen Therapie am Lebensende in manchen Kulturräumen, so stellt man fest, dass die die Lebensqualität bestimmenden Kriterien nicht dieselbe Priorität haben [10]. Somit trat das Prinzip ‚in dubio pro vita‘ auch in medizinisch aussichtslosen Situationen in den Vordergrund.

Dass die Hierarchie unter den ethischen Prinzipien auch kulturbedingt voneinander divergieren kann, wird in den medizinethischen Fachdebatten bis jetzt nicht gebührend berücksichtigt. Beispielsweise werden die ethischen Prinzipien im ‚Principlism‘ als prima facie Prinzipien verstanden und ihre normative Bedeutung fallbedingt bestimmt. Dabei geht es darum hypothetisch zu bestimmen, ob in einem ethischen Konflikt zum Beispiel die Patientenautonomie oder die Fürsorge ein höheres Gewicht hat. Es ist jedoch unverkennbar, dass der Patientenautonomie in der westlichen Welt per se eine höhere Bedeutung als die anderen Prinzipien zukommt. Denselben Stellenwert hat die Patientenautonomie nicht unbedingt in jedem Kulturraum. Diese ‚Hierarchie-Diversität‘ unter den ethischen Prinzipien ist m.E. eine der wichtigsten Herausforderungen bei der Lösung interkultureller ethischer Konflikte, die jedoch häufig in der Praxis übersehen werden. Diese Diversität umfasst nicht nur ethische Prinzipien, sondern auch weitere normative Begriffe wie etwa mutmasslicher Patientenwille oder das beste Interesse des Kindes.

FALL-1¹

Das sechs Tage alte Kind türkisch-muslimischer Eltern leidet an einem Oto-palato-digitalen Syndrom (OPD) Typ II und somit an einer sehr seltenen, genetisch bedingten Erkrankung mit schweren Organanomalien. Das Kind ist ohne intensive maschinelle Unterstützung und intensivmedizinische Behandlung nicht lebensfähig. Auch mit intensivmedizinischer Therapie könnte es nur für sehr kurze Zeit (wahrscheinlich für ein paar Tage oder eine Woche) am Leben erhalten werden. Die Eltern sind der deutschen Sprache nicht mächtig. Deswegen findet ein Gespräch mit einer Dolmetscherin statt, die zum Bekanntenkreis der Eltern gehört. Da das Kind keine Überlebenschance und Heilungsoption hat, schlägt das medizinische Team eine Therapiezieländerung vor. Danach sollten kurative Therapien begrenzt werden und ein Übergang zur palliativen Therapie stattfinden. Aufgrund der medizinischen Aussichtslosigkeit sollte der leidvolle Zustand des Kindes nicht unnötig verlängert werden. Die Eltern wünschen sich jedoch eine maximale Therapie und die Fortführung aller lebensverlängernden Massnahmen. Für sie ist es sehr wertvoll, wenn das Kind auch für kurze Zeit am Leben gehalten werden könnte. Sie betonen, dass diese Entscheidung mit ihrem islamischen Glauben zusammenhängt. Eine andere Entscheidung würden sie im Jenseits vor Gott nicht verantworten können. Es stellte sich auch heraus, dass die dolmetschende Person die Eltern in ihrem Entscheidungsprozess beeinflusst hat und bei der Entstehung dieser Entscheidung eine Rolle gespielt hat.

3. Kommunikationsbarrieren und kultursensible Kommunikation

Im obigen Fall sind Kommunikationsbarrieren mit unterschiedlicher Qualität und ethischer Relevanz vorhanden. Hier wird die Verständigung mit Hilfe einer Dolmetscherin aus dem sozialen Kreis der Eltern geleistet. Um diesen Konflikt zu lösen, findet eine Besprechung mit den Eltern statt, in der es um ‚Leben und Tod‘ geht. In so einem entscheidenden Gespräch sind Wortwahl, non-verbale und paraverbale Kommunikationseinheiten von zentraler Bedeutung. Nicht nur wie man das Gesagte übersetzt, sondern wie man es versteht, ist entscheidend. Hier kann im Sinne von des ‚Sender-Empfänger-Modells‘ in den Kommunikationswissenschaften sogar von zwei Sendern gesprochen werden [12].

In diesem Fall formuliert die behandelnde Ärztin den folgenden Satz, um den medizinisch aussichtslosen Zustand des Kindes zum Ausdruck zu bringen: ‚Wenn die Natur so will, dann müssen wir das akzeptieren‘. Hier ist ein medizinisch aussichtsloser Zustand gemeint, in dem wir Menschen medizintechnisch nichts tun können. Deshalb bleibt uns nichts anderes übrig, als diese Situation zu akzeptieren. Eine wortwörtliche Übersetzung desselben Satzes würde aber in der türkischen Sprache bedeuten: ‚Wenn die Bäume und Steine so wollen, dann sollen wir das akzeptieren‘. Da es sich hier um eine religiöse muslimische Familie handelt, ist es unklar, ob mit diesem Satz die Botschaft der Ärztin verstanden werden kann. Vielmehr ist es hier angebracht einen Satz zu formulieren, der in die Heimwelt der Eltern dieselbe Botschaft bringt. Hier könnte beispielsweise der folgende Satz formuliert werden: ‚Wenn Allah (Gott) so will, dann müssen wir das akzeptieren‘. Nicht die Macht der Natur, also Bäume und Steine bestimmen diese aussichtslose Situation, sondern der Allmächtige und alles schaffende Gott. In so einer schicksalhaften Situation stösst das Behandlungsteam an seine Grenze des Machbaren. Deshalb sollte diese Machtlosigkeit und Hilflosigkeit akzeptiert werden.

Eine weitere Problematik in diesem Fall war die fehlende Neutralität der Dolmetscherin, die erst im Nachhinein festgestellt werden konnte. Sie hat die Eltern in ihrem Entscheidungsprozess eindeutig beeinflusst. Ebenfalls hat sie mit ihrem theologischen Wissen den Eltern die Informationen vermittelt, die in der Begründung benutzt wurden. Abgesehen von dieser Einflussnahme ist es auch wichtig zu wissen, inwiefern ihre fehlende Neutralität als eine wichtige Kompetenz des Dolmetschers die Kommunikation beeinträchtigt hat. Wahrscheinlich spielte sie sogar eine wichtige Rolle bei der Entstehung des Konflikts.

Eine interkulturelle Kommunikation im Rahmen eines ethisch so komplexen Falls erfordert, wie im obigen Beispiel deutlich geworden ist, eine kultursensible Gestaltung eines Gesprächs. Kultursensible Kommunikation als eine wichtige Fähigkeit der interkulturellen Kompetenz [13] beinhaltet über die sachlich richtige Übersetzung des Gesagten hinaus auch die Überlegung über die möglichen Deutungen der gesprochenen Sätze in der Heimwelt des anderen. Deswegen ist es wichtig, sich in komplexen Fällen auf eine sinngemässe Übersetzung durch den Dolmetscher zu konzentrieren. Diese Fähigkeit erfordert jedoch, dass die Dolmetscher nicht nur bilingual, sondern auch bikulturell sind. [14] Diese Bikulturalität dürfte bei der Übersetzung gewisse Momente schaffen, in denen man über die sinngemässe Vermittlung der Botschaft nachdenken und reflektieren kann.

4. Kulturpraxis und Kulturwissen

Sicherlich ist für den obigen Fall die Frage berechtigt, ob die Entscheidung der Eltern mit kulturell-religiösen Argumenten begründet werden kann. Im Rahmen der klinisch-ethischen Beratung konnte herausgefunden werden, dass ihr Wunsch auf eine Glaubensüberzeugung zurückzuführen ist. Das Jüngste Gericht hat eine zentrale Bedeutung in der islamischen Eschatologie und Moral. Muslime legen Rechenschaft über ihre Handlungen vor Gott ab, welche sowohl Belohnung als auch Strafe als Konsequenz haben kann. Deswegen sind Muslime angehalten im diesseitigen Leben im Umgang mit anderen Menschen moralisch richtig zu handeln. Für die Eltern führt die Akzeptanz einer Therapiereduktion zum früheren Tod ihres Kindes und ist moralisch nicht vertretbar.

Diese spezielle und dem Behandlungsteam fremde religiöse Begründung erfordert Kenntnisse über die andere Religion. Erst durch dieses Kulturwissen können die Behandelnden die Entscheidung der Eltern nachvollziehen. In einer ethischen Konfliktsituation müssen zwar die Konfliktparteien nicht von den jeweils anderen Argumenten überzeugt sein, dennoch müssen die Gründe offengelegt werden. Eine sachliche Klärung der Positionen ist ein unvermeidbarer Schritt für einen eventuellen Konsens.

Eine weitere wichtige Frage in unserem Fall lautet, ob die Forderung der Eltern nach maximaler Therapie in deren Glaubenssystem wirklich eine moralisch falsche Entscheidung ist. Die Beantwortung dieser Frage erfordert zusätzliches religiöses Wissen, welches bei der Ärztin nicht vorausgesetzt werden kann. Hier wären sowohl für die Eltern als auch für das Behandlungsteam weitere Informationen hilfreich. Hier wäre tatsächlich eine kontextspezifische theologische Aufklärung von zentraler Bedeutung, die von einem kundigen muslimischen Theologen geleistet werden könnte. Falls hier aufgrund der möglichen theologischen religiösen Schlussfolgerungen auch eine Therapiezieländerung vertreten werden kann, die nicht moralisch verwerflich ist, so könnte diese Wissensvermittlung eine Schlüsselrolle bei der Lösung des Konflikts erlangen.

Kulturwissen beinhaltet Kenntnisse über Praktiken, moralische Haltungen und Einstellungsformen von Menschen aus anderen Kulturräumen in ihrem Umgang mit Krankheit, Gesundheit und Lebensende [13]. In der obigen Analyse ist Kulturwissen bei der ethischen Konfliktlösung unverzichtbar. Bei der Nutzung solcher Kulturinformationen im Konfliktlösungsprozess ist jedoch Vorsicht geboten. Denn zunächst sollten die Bedeutung und der Stellenwert der Glaubensüberzeugungen kontextbezogen konkretisiert werden. In unserem Fall bedeutet dies, dass überprüft werden muss, ob sich die Eltern diese Glaubensüberzeugungen und daraus ableitbare Haltungen aneignen.

5. Moralische Diversität und Toleranz

In einer grossen Studie wurden Kinderärzte in den Niederlanden nach Konflikten in Entscheidungsprozessen am Lebensende gefragt [15]. Dabei wurden die Eigenschaften und Entstehungsbedingungen der Entscheidungskonflikte innerhalb des Behandlungsteams und zwischen dem Behandlungsteam und den Eltern der schwer kranken Kinder untersucht. Ziel war es u.a., die Rahmenbedingungen für einen Konsens und Ursachen für Meinungsunterschiede herauszufinden. 20% von 116 befragten Ärzten haben berichtet, dass sie einen Interessens- und Entscheidungskonflikt zwischen ihrem Behandlungsteam und den Eltern des kranken Kindes erlebt haben. Fast in allen Fällen (22 von 23 Fällen ) forderten die Eltern eine maximale Therapie bzw. Fortsetzung der aktuellen medizinischen Behandlungen, obwohl diese Behandlungsstrategie vom Behandlungsteam nicht priorisiert wurde. Es wurde festgestellt, dass die muslimischen Eltern signifikant öfter in diesen Konflikten involviert waren (58%) als die nicht muslimischen Eltern (12%) [15]. Leider ist es aus den Studienergebnissen nicht möglich, sachliche und kulturelle Gründe für diesen Unterschied abzuleiten.

Zu den glaubensbedingten Einstellungen und der kulturellen Praxis am Lebensende liefert eine andere Studie mehr Informationen. In Oman wurden 659 Fälle auf der neonatologischen Intensivstation in einem Jahr hinsichtlich der Entscheidungskriterien evaluiert und die Haltung der Eltern im Entscheidungsprozess untersucht [16]. Die Autoren betonen, dass bei der Entscheidungsfindung über Reanimationsmassnahmen die Eltern des schwer kranken Kindes kaum alleine entschieden, sondern in der Regel fast immer durch weitere Verwandte unterstützt wurden. Sie unterstreichen zugleich, dass es sehr oft eine ablehnende Haltung zu einem Therapieabbruch (89%) beispielsweise durch Ausschaltung des Respirators gibt. Diese Einstellung wird mit einer spezifischen Interpretation eines muslimischen Glaubenssatzes in Verbindung gebracht: „(…) no situation is considered hopeless for Muslim believers who believe in the omnipotence of an Almighty God (…) All should therefore be done to support the infant and the rest left to God.‘‘ [16, S. F117]

Die oben beschriebenen Studien belegen auch, dass die in unserem Fall vorhandene Kulturpraxis und moralische Diversität auch in anderen Ländern vorhanden ist. Für die Bestimmung einer ethisch angemessenen Umgangsform mit dem Konflikt stellt sich jedoch im Fall die Frage nach der normativen Bedeutung und dem ethischen Stellenwert der kulturell religiösen Wertvorstellungen und den damit verbundenen Entscheidungen der Eltern in einem interkulturellen Kontext. Wenn die kulturellen Wertvorstellungen der Eltern bei der Behandlung eines Kindes beachtet werden sollen – wie sollen diese berücksichtigt werden, und von wem sollen Implikationen dieser Werthaltungen im Entscheidungsprozess bestimmt werden?

Sowohl eine gelungene Kommunikation als auch das erforderliche Kulturwissen sind für die sachliche Klärung des interkulturellen Konflikts unvermeidbar. Diese sind für eine Konfliktlösung notwendig, aber nicht hinreichend. Es müssen die in der Argumentation liegenden ethischen Güter gegeneinander abgewogen und dadurch eine ethisch legitimierbare Handlungsoption präferiert werden. Die durch den Einsatz einer maximalen Therapie zu erreichende Lebensverlängerung für eine begrenzte Zeit und die durch die Therapiezieländerung bzw. Therapiebegrenzung erzielbare Leidensverkürzung stehen im vorliegenden Fall im Konflikt. Hier stellt sich die Frage, inwiefern dieser Konflikt mit einer ethischen Orientierung auf das beste im Interesse des Kindes gelöst wird?

Es ist offensichtlich, dass die Konfliktparteien den moralischen Begriffen Leidensverkürzung und Lebensverlängerung nicht denselben Stellenwert zugemessen haben. Oben wurden auch die theologischen bzw. kulturellen Gründe für diese unterschiedliche Wertzuschreibung genannt. Hier ist die Frage, ob diese moralische Diversität aufgrund der Toleranz und Anerkennung akzeptiert und die daraus resultierende Handlung durchgeführt werden soll. Ebenfalls kann hier über die fehlende medizinische Indikation und weitere Gerechtigkeitsfragen diskutiert werden. Inwiefern kann der Therapieabbruch mit der Begründung der medizinischen Aussichtslosigkeit und fehlenden medizinischen Indikation als Zeichen der Toleranz verschoben werden? Wo sind die klaren Grenzen? Welche normative Bedeutung hat die kulturell bedingte moralische Diversität bei der Bestimmung dieser Grenzen?

FAZIT

In diesem Beitrag wurden die Charakteristika des interkulturellen Verhältnisses in Behandlungssituationen in Bezug auf die ethische Relevanz beschrieben. Es wurden auch die Bedeutung und Rolle von Kommunikationsbarrieren, Kulturpraxis und moralische Diversität bei der Entstehung von interkulturellen Konflikten aufgezeigt. Kultursensible Kommunikation, Kulturwissen und Toleranz als einige Fähigkeiten innerhalb der interkulturellen Kompetenz bieten sich sowohl für die Prävention als auch für die Lösung solcher Konflikte an. Auch wenn die interkulturelle Kompetenz nicht einen ethischen Ansatz ersetzen kann, so ist sie für eine ethische Orientierung und für die kulturelle Öffnung des Gesundheitssystems in wertpluralen Gesellschaften unvermeidbar. Deshalb sollte ihre Vermittlung in wertpluralen Gesellschaften ein fester Bestandteil der Aus-, Weiter- und Fortbildung in den Gesundheitsberufen sein.

Prof. Dr. (TR) Dr. phil. et med habil. Ilhan Ilkilic M.A.

Department of History of Medicine and Ethics
Istanbul University – Faculty of Medicine
English Program Campus
34093 Istanbul Fatih Capa, Turkey

1. Bundesamt für Statistik. Bevölkerung nach Migrationsstatus [Internet]. [abgerufen am 27. Juni 2023]. Verfügbar unter: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/migration-integration/nach-migrationsstatuts.html
2.  Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Deutschland [Internet]. [abgerufen am 27. Juni 2023]. Verfügbar unter: https://www.bamf.de/DE/Themen/Forschung/Veroeffentlichungen/Migrationsbericht2021/PersonenMigrationshintergrund/personenmigrationshintergrund-node.html
3.  Statista. Statistiken zu Ausländern und Migration in Österreich [Internet]. [abgerufen am 27. Juni 2023]. Verfügbar unter: https://de.statista.com/themen/4706/auslaender-und-migration-in-oesterreich/?kw=&crmtag=adwords&gclid=EAIaIQobChMI3aLboc7i_wIV7JRoCR06xQItEAAYASAAEgIXBvD_BwE#topicOverview
4. Coors, M, Peters T, Ilkilic I. Kulturelle Differenz in der Gesundheitsversorgung. Ethik in der Medizin. 2018;30(3):177–179.
5. Stenger G, Philosophie der Interkulturalität: Erfahrung und Welten. Eine phänomenologische Studie, Freiburg i. Br.: Verlag Karl Alber; 2006.
6. Ilkilic I. Ethische Aspekte der interkulturellen Kommunikation in Behandlungssituationen. Zeitschrift für Medizinische Ethik, 2019;65(4):425-435.
7. Kliche O, Agbih S, Altanis-Protzer U, Eulerich S, Klingler C, Neitzke G, et al.
Ethische Aspekte des Dolmetschens im mehrsprachig-interkulturellen Arzt-Patienten-Verhältnis. Ethik in der Medizin 2018;30(3):205-220.
8. Broszinsky-Schwabe E, Interkulturelle Kommunikation. Missverständnisse – Verständigung. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften; 2011.
9. Beauchamp TL, Childress JF Pinciples of Biomedical Ethics. 8th ed. New York: Oxford University Press; 2019.
10. Ilkilic, I. Medizinethische Aspekte des interkulturellen Arzt- Patienten- Ver- hältnisses, in: Deutscher Ethikrat ed. Migration und Gesundheit, Kulturelle Vielfalt als Herausforderung für die medizinische Versorgung, Berlin: Deutscher Ethikrat; 2010. 29-40.
11. Ilkilic I, Schmidtke S. Medizinethische Aspekte der Kultur in der Neonatologie. Pädiatrische Praxis. 2017;70:569-576.
12. Watzlawick P, Beavin Jh, Jackson  DD. Menschlische Kommunikation: Formen, Störungen, Paradoxien. 10. Aufl. Bern: Hans Huber; 2000.
13. Ilkilic I. Interkulturelle Kompetenz als Schlüsselqualifikation für Gesundheitsberufe. Gesundheit Gesellschaft Wissenschaft. 2017;17:24-30.
14. Snell-Hornby M. Übersetzen. In: Straub J, Weidemann A, Weidemann D, editors. Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Stuttgart: J. B. Metzler; 2007. 87-93.
15. De Vos MA, van der Heide A, Maurice-Stam H, Brouwer OF, Plötz FB, Antoinette YN et al. The process of end-of-life decision-making in pediatrics: a national survey in the Netherlands. Pediatrics, 2011;127(4):e1004-1012.
16. Da Costa DE, Ghazal H, Al Khusaiby S. Do Not Resuscitate orders and ethical decisions in a neonatal intensive care unit in a Muslim community, Arch Dis Child Fetal Neonatal Ed, 2002;86(2):F115-119.