Kulturelle Aspekte (in) der Seelsorge – ein Essay

Arbeiten im Bereich der interkulturellen Kommunikation gingen zunächst von Verhandlungen zwischen ‚kulturell homogenen’ Delegationen aus. Im klinischen Bereich zeigte sich, dass insbesondere bei der ‚Partei’ der Patient_innen bzw. Angehörigen nicht von ‚kultureller Homogenität’ ausgegangen werden kann. So wurde für den klinischen Bereich der Ansatz der Transkulturalität entwickelt. Der Dienst der (Spital-)Seelsorge muss, wenn er richtig verstanden sein will, sich selbst einer transkulturellen Analyse unterwerfen. Er ist durch eine sich ständig wandelnde, individuell geprägte ‚Kultur’ gekennzeichnet. Dies erweist sich im klinischen Bereich als Chance.



Die Globalisierung hat zu einer starken Ausweitung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Austausch- und Kommunikationsprozesse über geographische, sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg geführt. Diese Ausweitung hat Veränderungen bewirkt, die auch den klinischen Bereich betreffen. So wurden im klinischen Bereich seit einigen Jahren beispielsweise erweiterte Sprachkompetenzen erforderlich, weil nicht mehr davon ausgegangen werden konnte und kann, dass sich alle Patient_innen, aber auch alle Gesundheitsfachpersonen in der Landessprache zu verständigen wissen (1). In klinischen und auch allen anderen gesellschaftlichen Bereichen wird jedoch deutlich, dass es mit Sprachkompetenzen allein nicht getan ist. Forschung im Feld der interkulturellen Kommunikation nimmt diese Erkenntnis ernst und analysiert, welche Faktoren nebst reinen Sprachkompetenzen für eine gelingende Kommunikation relevant sind. Interkulturelle Kommunikation wurde zunächst für Verhandlungen zwischen unterschiedlichen wirtschaftlichen Unternehmen oder politischen Organisationen entwickelt (2). Diese Unternehmen und Organisationen können als in sich je ‚kulturell homogen’ verstanden werden, da sie über eine Corporate Identity, klare interne Strukturen und Prozeduren, ein Produkt oder eine Mission, einheitliche Strategien und Zielsetzungen etc. verfügen. Sosehr die einzelnen Mitarbeiter_innen dieser Unternehmen oder Organisationen unterschiedliche kulturelle Identitäten aufweisen, sollen sie als professionelle Vertreter_innen ihres Unternehmens dessen ‚Kultur’ vertreten und nicht die eigene. Wird beispielsweise zwischen den Delegationen eines US-amerikanischen Software-Unternehmens und eines chinesischen Elektronikherstellers verhandelt, so können Fachleute für diese spezifische, interkulturelle Kommunikation den Delegationen bei der Verhandlungsführung zur Seite stehen. Sie haben präzise Kenntnisse der konkreten kulturellen Prägungen der jeweils anderen Delegation.
Im klinischen Bereich sehen die Kommunikationssituationen anders aus: Auf der einen Seite stehen zwar Gesundheitsfachpersonen, auf welche die oben genannten Voraussetzungen der institutionell vorgegebenen ‚kulturellen Homogenität’ (Corporate Identity, klare interne Strukturen und Prozeduren, einheitliche Strategien und Zielsetzungen, medizinethische Richtlinien etc.) mehr oder weniger zutreffen (3). Die Kliniken erwarten von ihren Angestellten, die Kultur der Institution zu repräsentieren. Deshalb und aufgrund des wissenschaftlichen Anspruchs auf Objektivität liegen Standardisierungen in Medizin und Pflege im Trend. (Kommunikations-)Prozesse sollen sinnvoll strukturiert, vereinheitlicht und so hinreichend transparent gemacht und rationalisiert werden.
Das Gegenüber der Kommunikation im klinischen Bereich (Patient_in, Angehörige) ist jedoch kein professioneller Rollenträger. Seine ‚kulturelle Identität’ ist geprägt durch Faktoren wie Staatszugehörigkeit, geographische Herkunft, Ethnie, Sprache, Religion, familiäre Einbindung, Erziehung, sozialer Status, institutionelles Umfeld, Kulturmilieu, Bildungsniveau etc. Seine Vorstellungen, Wünsche, Hoffnungen, Ängste in Bezug auf Gesundheit bzw. Krankheit, deren Behandlung und die Kommunikation darüber werden durch all diese kulturellen Wirkmomente beeinflusst. So beschreiben gesundheitsbezogene Wissenschaften die kulturelle Identität einer Person mithilfe des Konzepts der Transkulturalität als eine multifaktorielle, dynamische und also hoch individuelle Grösse.
Die Spitalseelsorge ist im deutschsprachigen Bereich zumeist von den evangelischen oder katholischen Kirchen getragen. Diese haben Regularien, welche die Ausbildung und Zulassung zum Spitalseelsorgedienst (Theologiestudium, allgemeine Praxisausbildung, Seelsorge-Spezialausbildung) konkretisieren und Verfassungen, in denen die Bedeutung der Spitalseelsorge u.a.m. grundgelegt ist. Obwohl Seelsorge von öffentlich-rechtlich anerkannten Organisationen getragen wird und einen professionellen Anspruch hat, muss sie jedoch als ‚kulturell heterogene’, dynamische, individuell variable Grösse verstanden werden. Sie unterliegt einem ständigen und teilweise fundamentalen Wandel und weist eine grosse Diversität auf. Von institutionsbedingter ‚kultureller Homogenität’ kann nicht in demselben Mass die Rede sein, wie dies sonst im klinischen Bereich bei Gesundheitsfachpersonen einer Institution angestrebt wird. Insbesondere die evangelischen Kirchen der Schweiz sind Gebilde, die, was ihr Gepräge betrifft, nicht mit wirtschaftlichen Unternehmen oder politischen Organisationen verglichen werden können.
Wenn hier über kulturelle Aspekte der Seelsorge gesprochen werden soll, dann will dabei v.a. der eigene ‚Kulturwandel’ und die gegenwärtige Diversität der Seelsorge bedacht sein, d.h. Seelsorge selbst muss unter der Perspektive der Transkulturalität konzeptualisiert werden. Nicht bloss das Gegenüber in der seelsorgerlichen Kommunikation ist ‚kulturell anders’, eventuell sogar fremd, sondern die seelsorgende Person erfährt in der seelsorgerlichen Begegnung mit dem Gegenüber ihre eigene Andersartigkeit, eventuell sogar Fremdheit. Sie versucht durch wache Beobachtung und sorgfältiges Nachfragen eine kommunikative Beziehung zwischen zwei Individuen in ihrer Individualität zu ermöglichen. In dieser Beziehung soll angesprochen und ausgesprochen werden können, was Patient_innen oder Angehörige beschäftigt – so könnte eine formale Kürzestdefinition von Seelsorge lauten (4). In der Seelsorge wird von kultureller Verschiedenheit geradezu ausgegangen, selbst wenn es sich um Gegenüber handelt, die durch ähnliche kulturelle Wirkmomente (Sprache, Ethnie, Religion, soziale Zugehörigkeit etc.) geprägt wurden. (Spital-)Seelsorgerliche Begegnungen sind somit wesentlich durch die Begegnung der konkreten seelsorgenden Person und mit ihrem aktuellen Gegenüber charakterisiert. Wiewohl professionelle Standards in der (Spital-)Seelsorge existieren (5), erweist sich eine gelungene seelsorgerliche Begegnung als singuläres und kontingentes Ereignis. So muss in der Seelsorge meist von strukturierter Herangehensweise und vorbestehenden Zielsetzungen abgesehen werden. Wer mit einem pragmatischen Problem-Lösungsschema Seelsorge zu betreiben versucht, verkennt ihren Beziehungscharakter und die Unverfügbarkeit einer gelingenden seelsorgerlichen Begegnung.

Kulturelle Wandlungen in der Seelsorge seit dem ausgehenden 19. Jh.

Der ‚Kulturwandel’ in der Seelsorge bzw. die dynamischen und heterogenen Entwicklungen der Seelsorge betreffen ihre theologisch-theoretische Fundierung, ihre methodisch-theoretische Herangehensweise und die praktische Ausbildung zur bzw. die Ausübung der Seelsorge. Diese Dynamik ergibt sich aufgrund theologie-interner Entwicklungen, aber auch in Wechselwirkungen mit anderen Wissenschafts- und Kulturbereichen.
Um eine Skizze dieser kulturellen Wandlungen in der Seelsorge halbwegs sinnvoll erstellen zu können, wird bei der Auswahl der dargestellten Referenzpunkte eine starke Einschränkung vorgenommen: Der vorliegende Text bespricht ausschliesslich Entwicklungen der Seelsorge im deutschsprachigen, evangelischen Bereich. Doch selbst diese starke Fokussierung wird noch immer ein kulturell heterogenes, dynamisches Bild der (Spital-)Seelsorge ergeben.
Die Skizze des Kulturwandels in der Seelsorge soll vom Bericht des Pfarrers Johann Christoph Blumhardt d. Ä. (1805 – 1880) über seine seelsorgerlichen Bemühungen um die Gottliebin Dittus ausgehen(6). Die Ereignisse von 1843/44 und ihre Rezeption können in mehrfacher Hinsicht als idealtypische Grunderzählung des Kulturwandels der Seelsorge verstanden werden. Der Dorfpfarrer und Seelsorger Christoph Blumhardt d.Ä. beschreibt in diesem Bericht seine zweijährigen, seelsorgerlichen Bemühungen um eine psychisch schwerkranke, junge Frau. Er wollte mit diesem Bericht der Kirchenbehörde seiner Gemeinde Möttlingen Rechenschaft über seine seelsorgerliche Praxis geben. Der Text gelangte jedoch durch eine Indiskretion an die Öffentlichkeit und zirkulierte bald in den unterschiedlichsten Versionen. Daher sah sich Blumhardt gezwungen, seinen Originalbericht zu veröffentlichen (7).
Seit der Reformation und bis weit ins 20 Jh. hinein wurde Seelsorge in konservativen Kreisen als Verkündigung (d.h. Predigt) gegenüber einem einzelnen Gemeindeglied verstanden. Diese an einem Gegenüber orientierte Verkündigung konzentrierte sich auf das Lob der Grösse Gottes und den Zuspruch seiner Gnade. Damit, so meinte man, wären die Probleme, die Menschen in die Seelsorge tragen würden, letztlich alle zu lösen (8).
Konservative Rezipienten des Blumhardt’schen Berichts meinten darin eine Bestätigung dieses Seelsorgekonzepts zu finden. Den äussersten Ausdruck dieser Bestätigung glaubten sie im Ausruf ‚Jesus ist Sieger’ zu hören, der in einer besonders dramatischen Seelsorgesequenz seitens der Klientin (bzw. ihres Bruders) ergangen sein soll: Die gequälte Gottliebin Dittus (bzw. ihre Angehörigen), so meinen diese Interpreten, erkannte dank Blumhardts verkündigender Seelsorge die Grösse und Gnade Gottes und bekannte nunmehr gläubig, Jesus sei Sieger auch über ihre ‚Quälgeister’. Tatsächlich trat in der Folge dieser Sitzung bald eine deutliche Besserung des psychischen Zustands der Gottliebin Dittus auf, die krisenhaften Zustände verschwanden angeblich. Konservative Theolog_innen schlussfolgerten, wenn selbst der psychisch schwerstkranken Gottliebin Dittus in ihrer äussersten Not durch die getreuliche Verkündigung des Seelsorgers habe geholfen werden können, wieviel mehr dann auch allen anderen Menschen.
Die Geschehnisse in der Kirchgemeinde Möttlingen wurden teilweise auch als eigentlicher Exorzismus (dt. Austreibung) gedeutet, in welchem Blumhardt an Gottliebin Dittus vorbei den sie besetzenden Dämonen gepredigt und befohlen habe. Varianten des Berichts, die sofort in Umlauf kamen und sich bei einer breiten Leser_innenschaft grosser Beliebtheit erfreuten, haben diesen Eindruck wohl verstärkt. Schauer- und Gruselromane lagen im Trend der romantischen Literatur des 19. Jhs. (9). Da war es naheliegend, Blumhardts Bericht in diesem Sinne phantasievoll-gruselig auszuschmücken und anzureichern.
Das Verständnis der Blumhardt’schen Bemühungen als Exorzismus verkennt jedoch das im Originalbericht dokumentierte Vorgehen vollkommen. So hat Blumhardt zunächst nie versucht den Dämonen zu predigen, sondern sich in seiner Verkündigung immer an die Gottliebin Dittus selbst gewandt und ihren Glauben an die Grösse und Gnade Gottes aufzurichten versucht. Sodann erkannte er sein konventionelles Seelsorge-Verständnis bald als nutzlos.
An diesem Punkt änderte er sein Vorgehen. Gleichsam intuitiv begann er, die Gottliebin Dittus über ihre Person und ihr Befinden zu befragen. Man könnte diese Strategieänderung Blumhardts als kopernikanische Wende der Seelsorge stilisieren: von der Verkündigung hin zur Erkundigung. Blumhardt wollte die Situation der Kranken besser verstehen. Die Ergebnisse seiner Erkundigungen bei der Kranken notierte er sorgfältig in seinem Bericht. Dieser Bericht schildert ausführlich das Familiensystem und das Kindheitserleben der Kranken und erkennt darin Voraussetzungen für das gegenwärtige Leiden der Frau. Der Bericht von 1843/44 entspricht in gewisser Weise dem, was Psychoanalytiker zu Beginn des 20 Jhs. in Patient_innenakten niederschrieben. Es erstaunt nicht, dass Blumhardts Bericht später auch aus psychoanalytischer Sicht interpretiert wurde: Seine Gespräche mit der Kranken hätten bei dieser eine Bewusstwerdung ihrer inneren Konflikte ermöglicht, wodurch die Symptome der Konflikte verschwanden (10).
Wie beschrieben, existierte das konservative Verständnis der Seelsorge als Verkündigung noch bis in die Mitte des 20. Jhs. und erlebt in gewissen neokonservativen Kreisen gegenwärtig eine Renaissance. Die Entwicklungen in der Medizin und Psychiatrie wirkten aber auch auf die Seelsorge bzw. die Wissenschaft der Seelsorge (sog. Poimenik) ein. Es existierte ein lebhafter Austausch zwischen Exponenten der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen; Pfarrer standen damals meist in hohem gesellschaftlichem Ansehen und wurden als akademisch gebildetes Gesprächsgegenüber geschätzt. Der Briefwechsel zwischen dem Zürcher Pfarrer Oskar Pfister und Sigmund Freud ist nur ein Zeugnis davon (11).

Entwicklungen in der Seelsorge in der zweiten Hälfte des 20. Jhs.

Ab Mitte des 20 Jhs. formierte sich unter dem Begriff Seelsorgebewegung eine breiter angelegte, nicht mehr bloss von einzelnen Exponenten getragene Neuorientierung der Seelsorge. Das Grundanliegen der Seelsorgebewegung war eine Annäherung an psychotherapeutische Theorien und Ausbildungskonzepte (12). Hierbei wurde zum einen der reflektierten Selbsterfahrung der Seelsorgenden viel Raum gegeben. Zum anderen wurde die nicht-direktive Gesprächsführung als Grundtechnik der Seelsorge propagiert (d.h. Erkundigung statt expliziter Verkündigung). Die teilweise interkonfessionelle Seelsorgebewegung war im deutschsprachigen Raum keineswegs homogen, denn die Psychotherapie als ihr säkulares Gegenüber war es in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. auch nicht. Zugleich wurde wiederholt der kritische Ruf laut, dass Seelsorge nicht zur ‚kirchlichen Psychotherapie’ verkommen dürfe. Diese Mahnung gründete nicht zuletzt in der Forderung, Seelsorge sei doch weiterhin als Teil der kirchlichen Verkündigung zu verstehen (13). Nunmehr sollte die Gnade Gottes in der Seelsorge jedoch nicht mehr predigend expliziert, sondern in Form der empathischen Zuwendung in der Seelsorge implizit vermittelt werden.
Angeregt durch die Seelsorgebewegung ergab sich in den 70er Jahren im Bereich der Praktischen Theologie (jener Disziplin der wissenschaftlichen Theologie, die sich mit der Theorie der kirchlichen Praxisfelder befasst) ein weiterer fundamentaler Wandel: die empirische Wende(14). Wiederum darf diese Wende nicht als singuläres Phänomen der Theologie angesehen werden, sondern muss im Zusammenhang mit der Etablierung der evidenzbasierten Medizin verstanden werden. Die evidenzbasierte Medizin bezieht ihre hohe Plausibilität daraus, dass die Medizin in vielen Bereichen eine massgeblich empirisch orientierte Wissenschaft ist. Dies trifft für die Theologie als hermeneutisch orientierte Wissenschaft nicht zu. Insofern wirft die empirische Wende in der Praktischen Theologie etliche Fragen auf: Ist die kirchliche Praxis – näherhin die Seelsorge – aufgrund eines bestimmten Outcomes zu beurteilen? Wie wäre dieser Outcome der kirchlichen Praxis zu definieren und empirisch zu messen? Können empirische Studien (oftmals semiqualitative Befragungen) diesen Outcome geeignet erfassen? Haben theologische Traditionen (beispielsweise der Glaube an die Gnade Gottes) ihr Recht jenseits der Ergebnisse empirischer Befunde? Zumindest konnte die Praktische Theologie seit der empirischen Wende an Ergebnissen empirischer Untersuchungen nicht mehr schnöde vorübergehen.
Die zuständigen kirchlichen Stellen versuchten, mit diesen sehr unterschiedlichen Entwicklungen Schritt zu halten und umzugehen, indem sie beispielsweise in der Spitalseelsorge Ausbildungsstandards formulierten und entsprechende Ausbildungen institutionalisierten. In den 80er Jahren war dies das Clinical Pastoral Training (CPT, 12 Kurswochen berufsbegleitendes Training) – in Deutschland Klinische Seelsorge Ausbildung (KSA) genannt (15). Kaum hatte sich diese Ausbildung etabliert, drängten sich auch andere Seelsorge-Konzepte und entsprechende Ausbildungsgänge ins Bewusstsein der kirchlichen Behörden. Der Versuch, die Ausbildung kirchlicherseits zu vereinheitlichen, konnte die faktische Heterogenität im Bereich der Seelsorge nicht aufheben. Im schweizerischen Ausbildungskonkordat gibt es derzeit drei anerkannte, recht unterschiedliche Seelsorgeausbildungen: Lösungsorientierte Seelsorge, Systemische Seelsorge und Clinical Pastoral Training (16).

Ausblick

Spätestens seit der Jahrtausendwende etablierte sich der Begriff Spiritual Care (17). Dieser Begriff entstammt ursprünglich der Palliative Care. Bald zeigte sich jedoch, dass spirituelle Belange nicht bloss im palliativen Bereich eine Rolle spielen. Das Novum dieser Entwicklung lag darin, dass der Begriff Spiritual Care nicht primär kirchlicherseits gesetzt wurde, sondern in medizinisch-pflegerischen Foren aufkam – allerdings oftmals durch religiös engagierte Personen portiert. In mindestens zweierlei Hinsicht verkompliziert sich dadurch die Gesamtsituation:
– Erstens muss eine grundlegende Verhältnisbestimmung und eine strukturell-institutionelle Aufgabenteilung geschaffen werden zwischen dem nach wie vor präsenten kirchlichen Dienst der Spitalseelsorge und der sich langsam etablierenden Spiritual Care. Es scheint sich dabei eine pragmatische Klärung derart zu ergeben, dass Spiritual Care als Policy der Kliniken (auch bzgl. der Mitarbeiter_innen) verstanden wird und die Spitalseelsorge darin als spezialisierte Spiritual Care funktioniert.
– Zweitens stellt sich die grundlegendere Frage, was der Begriff der Spiritualität denn eigentlich bezeichnen will. Offensichtlich ist mit dem Begriff der Spiritualität der Versuch verbunden, die Thematik aus religiös-konfessionellen bzw. kirchlich-institutionellen Zusammenhängen herauszulösen, zu öffnen und allgemeinzugänglich zu machen. Dem Begriff Spiritualität fehlt jene Bestimmtheit, welche den Begriff Religion vermeintlich auszeichnet und ihn deswegen bisweilen zur Irritation werden lässt. So scheint der Begriff Spiritualität geeigneter zu sein, die Bedürfnisse gegenwärtiger Menschen in einer globalisierten, säkularen Welt zu beschreiben. Möglicherweise wird dabei jedoch die ‚religiös-kulturelle Homogenität’ von real existierenden Religionen, näherhin der Kirchen zumindest im deutschsprachigen Raum weit überschätzt. Die evangelischen Kirchen der Schweiz haben seit 1870 liberale Verfassungen und verstehen sich als bekenntnisfreie Kirchen: Die Bestimmung dessen, was christlicher Glaube bedeutet, liegt im Ermessen der Mitglieder. So wird klar, warum Spiritual Care gegenwärtig massgeblich durch kirchliche Stellen in vielfältigen Kursen und Ausbildungen angeboten wird: Die Offenheit der Spiritual Care, ihr an Transkulturalität orientiertes Grundanliegen, entspricht dem in der zweiten Hälfe des 20. Jhs. entwickelten Selbstverständnis der kirchlichen Seelsorge.
Wie sich Spitalseelsorge und Spiritual Care mit – und nebeneinander entwickeln, wird die Zukunft zeigen. Wenn sich Kliniken verstärkt um die Spiritual Care bemühen sollten, so ist dies aus Sicht des Autors zu begrüssen. Es steht jedoch zu befürchten, dass Kliniken das Angebot der Spiritual Care der eigenen ‚kulturellen Homogenität’ in Form von Standardisierung der Aufgaben und Prozesse unterwerfen (18). Wenn dies der Fall wäre, so ist zu befürchten, dass der Offenheit, der positiv-verstandenen Zufälligkeit und der bisweilen ‚heilsamen’ Nutzlosigkeit der Seelsorge dabei nicht mehr ausreichend Rechnung getragen werden kann.

P.S. Der Autor dieses Beitrags gibt zu bedenken, dass aufgrund des dargelegten Sachverhalts auch dieser Text als eine zeitlich gebundene, partikulare Annäherung an die Thematik verstanden werden muss. Der Verfasser würde „kulturelle Aspekte (in) der Seelsorge“ vielleicht schon in einigen Jahren anders darzustellen versuchen, weshalb hier bewusst die Form des Essays gewählt wurde.

Pfr. Dr. theol. Luzius Müller

Reformiertes Pfarramt beider Basel an der Universität
Seelsorger im St. Claraspital

luzius.mueller@unibas.ch

1. z.B. der entsprechende Hinweis des Universitätskinderspitals beider Basel: https://www.ukbb.ch/de/ukbb/abteilungen-dienste/dolmetscherdienst.php (Stand: 29.6.2023)
2. Ein hilfreicher Clip zur Erläuterung der Grundbegriffe bei: https://www.youtube.com/watch?v=uGliHeQuWsI&t=95s (Stand: 30.6.2023)
3. z.B. Leitbild des Universitätsspitals Basel: https://www.unispital-basel.ch/dam/jcr:ee9de922-7254-4755-9459-4c427b32d9ab/uni023_wir_zeigen_haltung_11_a6.pdf (Stand: 30.6.2023)
4. so ähnlich z.B. auf der Homepage der EKD: https://www.ekd.de/was-ist-seelsorge-64624.htm (Stand: 30.6.2023)
5. Morgenthaler, Christoph, Seelsorge, Gütersloh 32017, 67ff.
6. Blumhardt, Johann Christoph, Krankheitsgeschichte der Gottliebin Dittus. Ausführlicher Originalbericht, neu durchgesehen, Basel 1950.
7. Scharfenberg, Joachim, Zur Lehre von der Seelsorge. Bewusstwerdung und Heilung bei Johann Christoph Blumhardt, Theologia Practica 4, 1969, 145.
8. z.B. Thurneysen, Eduard, Die Lehre von der Seelsorge, Basel 1948, 93.
9. Matuschek, Stefan, Der gedichtete Himmel. Eine Geschichte der Romantik, München 2021, 252ff.
10. Scharfenberg, Joachim, Zur Lehre von der Seelsorge. Bewusstwerdung und Heilung bei Johann Christoph Blumhardt, Theologia Practica 4, 1969, 140 – 155.
11. Noth, Isabelle (Hg.) Sigmund Freud – Oskar Pfister. Briefwechsel 1909 – 1939, Zürich 2014.
12. Morgenthaler, Christoph, Seelsorge, Gütersloh 32017, 61 – 65.
13. Winkler, Klaus, Die Funktion der Pastoralpsychologie in der Theologie, in: Riess, Richard (Hg.), Perspektiven der Pastoralpsychologie, Göttingen 1974, 111 – 121.
14. Klein, Stephanie, Empirisch theologische Forschung im Spannungsfeld von Humanwissenschaften, Theologie und Kirche, in: Heusser, Andreas (Hg.), Erfassen – Deuten – Urteilen. Empirische Zugänge zur Religionsforschung, Zürich 2013, 41 – 48.
15. Morgenthaler, Christoph, Seelsorge, Gütersloh 32017, 61 – 65.
16. vgl. https://www.bildungkirche.ch (Stand: 8.6.2023)
17. einen guten Überblick über die Entwicklung der Spiritual Care: Nauer, Doris, Spiritual Care statt Seelsorge? Stuttgart 2015, 22 – 43.
18. Diese Entwicklung zeichnet sich beispielsweise darin ab, dass seit einigen Jahren ein ‚Indikationenset für Seelsorge und Spiritual Care’ propagiert wird: https://www.palliative.ch/public/dokumente/was_wir_tun/fachgruppen/seelsorge/ndikationen-Set_fuer_Spiritual_Care_und_Seelsorge_-_Langfassung.pdf (Stand: 29.6.2023)

Therapeutische Umschau

  • Vol. 80
  • Ausgabe 7
  • September 2023