EDITORIAL

Kulturelle Kompetenz



„Kulturelle Kompetenz“ – brauchen wir das in der Medizin denn überhaupt? Ist eine qualitativ hochstehende Medizin nicht bereits gewährleistet, wenn wir Patient:innen evidenzbasiert und leitliniengerecht behandeln? Oder: Ich bin Arzt und nicht Ethologe; weshalb soll ich mich mit kultureller Kompetenz befassen? Diese und weitere (rhetorische) Fragen wurden mir zu diesem Thema in letzter Zeit gestellt.
Selbstverständlich sollen medizinische Angebote den gesetzlich vorgegebenen sogenannten WZW-Kriterien genügen – Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit. Dies heisst aber nicht automatisch, dass damit die Ziele der Medizin komplett abgedeckt sind und erreicht werden. Gute Medizin beinhaltet zusätzlich, dass sie ethisch hohen Ansprüchen genügt und dabei nicht nur Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit knapper, teurer Güter oder Nutzen-Schaden-Abwägungen berücksichtigt werden, sondern insbesondere auch die Selbstbestimmung der Patient:innen respektiert wird.
Erst durch die Berücksichtigung der individuellen Werte, Bedürfnisse, Wünsche, Präferenzen und Normen von Patient:innen wird die Medizin dem ethischen Prinzip des Respekts vor der Autonomie vollständig gerecht. Erst so wird sie zu einer echt patient:innen-zentrierten Medizin und zu Value-based Healthcare. Das klassische Konzept der informierten Einwilligung greift dabei zu kurz. Um die Werte, Bedürfnisse, Wünsche, Präferenzen und Normen von Patient:innen zu erfassen und zu berücksichtigen, ist das sogenannte Shared Decision Making nötig, die gemeinsame Entscheidungsfindung von Fachpersonen und Patient:innen, in die nicht nur die aktuelle wissenschaftliche Evidenz und medizinische Indikation bestimmter Behandlungen einfliessen, sondern insbesondere auch die Werte der beteiligten Fachpersonen und Patient:innen. Diesem Thema widmete sich bereits letztes Jahr ein Themenheft der Therapeutischen Umschau (2022, 79, 8).
Die Prämisse des vorliegenden Themenhefts ist, dass es für optimales Shared Decision Making (inter)kultureller Kompetenz bedarf, da individuelle Werte, Bedürfnisse, Wünsche, Präferenzen und Normen von Patient:innen kulturell (mit)geprägt sind. (Inter)kulturelle Kompetenz kann definiert werden als „Fähigkeit, mit Individuen und Gruppen anderer Kulturen erfolgreich und angemessen zu interagieren, im engeren Sinne die Fähigkeit zum beidseitig zufriedenstellenden Umgang mit Menschen unterschiedlicher kultureller Orientierung. […] Interkulturell kompetent ist eine Person, die bei der Zusammenarbeit mit Menschen aus ihr fremden Kulturen deren spezifische Konzepte der Wahrnehmung, des Denkens, Fühlens und Handelns erfasst und begreift. Frühere Erfahrungen werden so weit wie möglich frei von Vorurteilen miteinbezogen und erweitert, während gleichzeitig eine Haltung der Offenheit und des Lernens während des interkulturellen Kontakts notwendig ist.“1
Da auch unterschiedliche medizinische Berufsgruppen und Fachrichtungen unterschiedliche „Kulturen“ und damit unterschiedliche Perspektiven auf das Konzept und die Anwendung (inter)kultureller Kompetenz in der Medizin haben, freue ich mich, dass wir im vorliegenden Themenheft Beiträge von Autor:innen aus den folgenden Bereichen versammeln können: Innere Medizin, Hausarztmedizin, Psychiatrie, Medizinethik, Philosophie, Psychologie, Hebammenwissenschaften und Seelsorge. Nun wünsche Ihnen eine interessante und für Ihre klinische Tätigkeit anregende und fruchtbare Lektüre.
PD Dr. med. Dr. phil. Manuel Trachsel

Leiter Abteilung Klinische Ethik
Spitalstrasse 22
4031 Basel
Schweiz

manuel.trachsel@usb.ch

Therapeutische Umschau

  • Vol. 80
  • Ausgabe 7
  • September 2023